Emmanuel Macron erntet gerade viel Kritik.

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Von den USA bis nach Tschechien hagelt es Kritik an einem Interview Emmanuel Macrons auf seinem Rückflug aus China. Zur Taiwan-Frage sagte er: "Das Schlimmste wäre zu denken, dass wir Europäer Mitläufer sein sollen und uns dem amerikanischen Rhythmus und einer chinesischen Überreaktion anpassen müssen." In Deutschland fragten "Atlantiker" wie CDU-Politiker Norbert Röttgen oder das Magazin "Spiegel", ob Macron "von Sinnen" oder "von allen guten Geistern" verlassen sei. Andere meinen, der französische Präsident werfe die berechtigte und aktuelle Frage auf, wie sich die Europäer nach etwaigen US-Sanktionen gegen Peking verhalten sollten. Auf jeden Fall hat Macrons Sager mehrere Erklärungen:

1. Macron lässt sich von anderen blenden

Frankreichs 45-jähriger Präsident ist beeinflussbarer, als es den Anschein macht. Der pompöse Empfang durch Chinas Präsidenten Xi Jinping wirkte bei Macron wohl bis auf den Rückflug nach – und damit auch Pekings Sichtweise, dass Taiwan eine innenpolitische Affäre sei; andere Länder, und seien das Frankreich oder die USA, gehe der "interne" Konflikt nichts an. Laut Stimmen im Elysée-Palast sprach Macron die Taiwan-Frage nicht selber an; Priorität hatte für ihn die Ukraine.

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DER STANDARD

Bewusst oder nicht übernahm der Franzose damit die Positionen Xis, so wie er schon nach zahllosen Telefongesprächen mit Wladimir Putin erklärt hatte, man dürfe den russischen Präsidenten "nicht erniedrigen". Die französischen Diplomaten, die sonst zu den gewieftesten der Welt zählen, raufen sich über solch heikle Aussagen die Haare. Der Politologe Bruno Tertrais kritisierte schon vor Monaten, Macron beschäftige seine außenpolitischen Berater nur der Form halber; in Wahrheit höre er nie auf sie. "Macron berät sich selbst", ätzte Tertrais. "Sein Spezialberater in Außenpolitik, das ist er selbst."

2. Frankreich ist ein "freier" Alliierter

Vor seiner Aussage über die europäischen "Mitläufer" hatte Macron schon Aufsehen erregt, als er die Nato unter US-Führung als "hirntot" bezeichnete. In Paris sind solche Meinungen, die von einem alten antiamerikanischen Reflex zeugen, seit Jahrzehnten gang und gäbe. Charles de Gaulle, Begründer der nuklearen "Force de Frappe", blieb dem Militärkommando der Nato fern und situierte sein Land auf gleicher Distanz zu den USA wie zur damaligen Sowjetunion. Dass es US-Soldaten gewesen waren, die Frankreich von den Nazis befreit hatten, wird in Frankreich nicht vergessen, aber vom heroischen Diskurs über die Résistance und die Befreiung von Paris durch den französischen Panzergeneral Leclerc verdrängt.

Ähnlich verhält es sich auch heute im Krieg in der Ukraine, in dem die französische Militärhilfe bedeutend geringer ausfällt als die amerikanische. Umso mehr brauche Europa eine eigene, von den USA unabhängige Armee, um sich aus eigener Kraft verteidigen zu können, sagt Macron. Die Entscheidung über den Einsatz der französischen Atomwaffen will er aber nicht mit anderen teilen.

3. Macron hat mit Biden noch eine Rechnung offen

Dass sich Macron klar von der amerikanischen Taiwan-Politik abgrenzt, lässt sich auch als Retourkutsche nach der Aukus-Affäre lesen. Frankreich hatte Australien 2016 zwölf U-Boote im Wert von 34 Milliarden Euro verkauft; 2021 kündigte Australien den Vertrag aber auf Betreiben von US-Präsident Joe Biden, der mit Großbritannien und Australien die neue Pazifik-Allianz Aukus gegen China lancierte. Frankreich, das im Südpazifik über große Überseegebiete wie Polynesien oder Neukaledonien verfügt, fühlte sich betrogen. Seither erklärt Macron, die französischen Interessen im Pazifikraum entsprächen nicht den amerikanischen. Insbesondere habe Paris kein Interesse an einer Eskalation der Taiwan-Frage oder generell des Handelsstreits zwischen Washington und Peking.

4. Macron will vom Pensionskonflikt ablenken

Der französische Präsident fokussiert sich seit längerem wieder auf die Außenpolitik, die prestigereiche Domäne des Staatschefs. Nach Staatsbesuchen in den USA und China reist Macron, kaum ist er wieder in Paris, diese Woche zu einem neuen Staatsbesuch in die Niederlande. Damit versucht er den Eindruck zu erwecken, er stehe über der innenpolitischen Krise rund um seine Pensionsreform, die seit Wochen Millionen Franzosen auf die Straße treibt und am Freitag mit dem Entscheid des Verfassungsgerichts ihrem Höhepunkt zutreibt.

Macron hält seine Minister an, volksnahe Anliegen wie Inflation, Energie oder Immigration zu thematisieren. Kritiker werfen ihm vor, er betreibe eine "Scheherazade-Strategie" – in Anlehnung an den orientalischen Klassiker "Tausendundeine Nacht", in dem die Erzählerin jede Nacht eine neue Geschichte erfand. (Stefan Brändle aus Paris, 11.4.2023)