Im Gastblog warnt Politikwissenschafter Jascha Bareis vor der Gefahr, gesellschaftliche Fragen an KI auszulagern und so auf das aktive Handeln zu verzichten.

Die Leistungen von Large-Language-Models (LLMs) wie OpenAIs GPT-3 (jetzt 4, morgen 5) oder Googles Bard haben einmal mehr die ganze Welt elektrisiert. Oft haben wir diese Aufschreie über KI in den letzten Jahrzehnten gehört. Jedes Mal wurde die Ekstase durch einen darauffolgenden KI-Winter erschüttert. Doch nun verkünden die Tech-Apologeten die nächste KI-Welle.

Durch diesen Hype verlieren wir als Gesellschaft einmal mehr das große Ganze aus dem Blick. Ich bin, gelinde gesagt, besorgt, denn wieder schaffen wir durch komplexe technische Lösungen noch mehr Probleme, ohne uns um die offensichtlichen Antworten zu kümmern. Oder vielleicht haben wir auch einfach nicht den Mut, die unangenehme Wahrheit auszusprechen: Dass der KI-Fortschritt den Planeten nicht retten wird. Auch, wenn uns dies das Silicon Valley, deren Tech-Gurus wie Elon Musk, Möchtegern-Philanthropen wie Bill Gates und viele Tech- und Enhancement-Enthusiasten aus dem elitären Oxford- und Stanford-Umfeld das weismachen wollen. Sie bekommen zu viel Medienaufmerksamkeit. Die Menschen, die alternative gesellschaftliche Zukunftsperspektiven aufzeigen, zu wenig. Kein Wunder, denn das Silicon Valley hat die Maschinen und Apps der Aufmerksamkeitsökonomie perfektioniert.

Entpolitisierung politischer Konzepte

Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieser Beitrag adressiert nicht Technologie und Innovation im Allgemeinen. Er befasst sich mit vermeintlichen Lösungen des Silicon Valley, welche uns darin hindern, politische Realitäten zu konfrontieren.

"Die Ära der KI hat begonnen", oder gar: "Der Verlust der Kontrolle über unsere Zivilisation". Darunter macht es das Silicon Valley nicht mehr. Medien und Personen aus der Politik übernehmen diese Rhetorik bereitwillig. Und ich habe es langsam satt. Außerdem halte ich es für unverfroren, ja gar übergriffig, Metaphern zu verwenden, die einen tiefgreifenden sozialen Wandel implizieren, um die Veröffentlichung eines Chatbots zu bejubeln.

Silicon Valleys Heilsversprechen. Dem Himmel zu nahe? Der Fall des Ikarus, Carlo Saraceni 1579-1620.
(Mentnafunangann, Paesaggio con caduta di Icaro, Carlo Saraceni 001, CC BY-SA 4.0)
Foto: Mentnafunangann, Paesaggio con caduta di Icaro, Carlo Saraceni 001, CC BY-SA 4.0

Es ist nichts anderes als eine ziemlich elitäre und abgehobene Silicon-Valley-Perspektive auf die Welt. Nun, es funktioniert. Leider. Denn Panik erzeugt Aufmerksamkeit. Es ist endlich an der Zeit, aus dem bekannten Drehbuch auszubrechen, das das Silicon Valley jedes Mal schreibt, wenn es eine neue Technologie auf den Markt bringt und verkündet, dass es die soziale Welt "fundamental" erschüttern wird.

Bill Gates zum Beispiel ist so ein haarsträubender Protagonist. Dessen "Gates Foundation" hat sich schon während der Pandemie den Vorwurf der Etablierung einer "Vaccine Apartheit" im globalen Süden eingehandelt. Nun verkündet er, dass KI und deren LLMs die Schlüsseltechnologie zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit und der globalen Erwärmung werden sollen. Das ist schlichtweg dreist. Das Silicon Valley preist vermeintliche technische Lösungen für globale Probleme als "revolutionär", während es für die selbst geschaffenen (und unnötigen) realpolitischen Konsequenzen seiner Innovationen keinerlei Verantwortung übernimmt. Big Tech hat nämlich keine echten Lösungen für die von ihr geschaffene algorithmische Diskriminierung, gesellschaftliche Desinformation oder den massiven ökologischen Fußabdruck parat.

Ja, die Ergebnisse der LLMs sind beeindruckend und sie werden die Art und Weise, wie wir arbeiten, verändern. Juristisch gesehen werden LLMs eine drastische Regulierung brauchen. Jedoch: Wie oft noch sollen Regierungen die gesellschaftlichen Kollateralschäden einer Silicon Valley Technologie flicken? Während Big Tech sich in seinen Milliardengewinnen wälzt und es tunlichst vermeidet, Steuern zu zahlen. Das Recht muss hier für Gerechtigkeit sorgen und es darf bei einem solchen Schädigungspotential auch mit Verweis auf das Vorsorgeprinzip Verbote aussprechen.

Vermeidung der unangenehmen Realität

Es ist nämlich Symptom politischen Versagens, dass wir es zulassen, immer komplexere und kostspieligere Lösungen auf die Welt loszulassen, um gesellschaftliche Herausforderungen wie Armut, geopolitische Konflikte, die rasante Urbanisierung oder – wenn wir in den 70er Jahren gut aufgepasst hätten – den Klimawandel zu bekämpfen.

Das Problem ist, dass wir einfach zu bequem sind, dies zu ändern, denn die Realität ist zuweilen äußerst unangenehm. Bei dem Hype um LLMs wird suggeriert, dass die Antwort auf unsere Probleme darin besteht, Lösungen immer einfallsreicher, effizienter und gemütlicher zu machen – ohne die damit verbundenen gesellschaftlichen und ökologischen Schäden zu berücksichtigen.

Nehmen wir das Schürfen von Mineralien für Batterien, die für unsere "E-Revolution" und für unsere KI-Infrastruktur von entscheidender Bedeutung sind – die die Umwelt und die Menschen im globalen Süden aber extrem in Mitleidenschaft ziehen. Nur, um dann noch so nett zu sein, ihnen unseren Elektromüll zu schicken.

Energieprobleme? Intelligente Netze! Mobilitätsproblem? Globale Erwärmung? Autos elektrifizieren und automatisieren! Urbanisierungsprobleme? Smart Cities! (Und wenn es eben nicht klappt, kolonisieren wir einfach den Mars – mit Verlaub: wenn Ihr Gehaltscheck es zulässt). Wir sind so sehr von der Rhetorik des Tech-Solutionismus umgarnt worden, dass wir die Lösungs-Denkweise des Silicon Valley als selbstverständlichen Modus Operandi akzeptiert haben.

Chat Bots lösen keine politischen Machtfragen

Mal ehrlich, wie viele Milliarden werden in KI investiert, wie viele schlaue Köpfe arbeiten daran, anstatt das Geld und den Gehirnschmalz in politische Bildung, einen funktionierenden ÖPNV mit unsexy Fahrrädern und Straßenbahnen, oder höhere Löhne für Erziehende zu investieren? Stattdessen setzen wir immer weiter auf teure und komplexe Technologie, die auf einer stark zentralisierten und ressourcenintensiven Infrastruktur läuft, welche von privaten Tech-Giganten kontrolliert wird.

Blöd, dass normative Fragen der Politik nicht von LLMs gelöst werden können. Politisches entscheiden ist eben kein kniffliges Rätselspiel. Man kann es nicht lösen, indem man sich durch mehr Daten arbeitet. Man muss moralisch abwägen, wie man gesellschaftliche Privilegien und Kosten auf wessen Schultern verteilt. Wer die aktuellen Gewinner und Gewinnerinnen sind, sollte klar sein.

Letztendlich ist es gesellschaftliche Dekadenz. Es ist ein Fetischspiel, für das wir angesichts der Probleme, die wir in der Welt haben, nicht die Ressourcen und die Zeit haben.

"Zeitersparnis" "Innovation", "Personalisierung", "psychische Gesundheit" (?!)... das Modernisierungsnarrativ von Chat-GPT.
Foto: https://chat-gpt.org/chat

In der Anthropologie ist es gar Symptom des Verfalls, wenn Hochkulturen immer komplexere Lösungen für ihre Probleme entwickeln. Es werden hohe Kosten verursacht, während der allgemeine Nutzen für die breite Gesellschaft immer geringer wird.

Genau das aber ist die Leier des heroischen Fortschrittsdampfers namens Silicon Valley, welcher über die Wellen der Zauderer hinweg gen eine goldene Zukunft fährt. Und wir bleiben stillschweigend einfach auf Deck sitzen, weil es doch (noch!) so komfortabel ist, während die Welt um uns in Trümmern versinkt. Die Rechnung ist nicht nur amoralisch, sie wird auch nicht aufgehen. Denn in dieser Welt sitzen wir schlussendlich alle im selben Boot. Man muss weder technophober Luddist, noch Weltuntergangspessimist sein, um zu erkennen, dass dieses Narrativ ziemlich, Verzeihung, ausgelutscht ist.

Wir brauchen den Mut, uns der analogen Realität zu stellen. Ja, das wird unangenehm, denn die Realität, sie beißt. (Jascha Bareis, 20.4.2023)