Suzume auf dem Schulweg, kurz danach trifft die auf den Fremden und das Abenteuer beginnt.

Foto: SUZUME Film Partners

"Eine einsame junge Frau adoptiert an einem regnerischen Tag eine Katze" – so lautet eine Beschreibung von Makoto Shinkais erstem Kurzfilm She and her Cat von 1999. Wenn es eine Essenz in Shinkais Werk gibt, dann kann man sie vielleicht schon in diesen wenigen Worten finden: die Einsamkeit junger Menschen, Haustiere und andere Gefährten, sich verändernde Wetterlagen und die sich über den Tag verändernden Lichtverhältnisse.

Der Animekünstler Makoto Shinkai, ehemals Zeichner in einer Computerspielefirma, machte um die Jahrtausendwende mit seinen Kurzfilmen auf sich aufmerksam. Zu jener Zeit regierte indes ein anderer den Animekinofilm, der sich durch künstlerische Originalität im Bild wie in den Geschichten von der restlichen Animeproduktion abhebt. Hayao Miyazaki dürften noch viele kennen. Sein Film Chihiros Reise ins Zauberland wurde 2002 als erster Anime auf das Filmfestival nach Berlin eingeladen (und gewann dort ex-aequo den Goldenen Bären). Daneben brachte Miyazaki einige der schönsten Trickfilme auf die große Leinwand: Prinzessin Mononoke sowie die Oscar-nominierten Filme Das wandelnde Schloss und Wie der Wind sich hebt, der 2013 den Abschluss seiner fantastischen Karriere bildete.

Der neue Anime-König: Makoto Shinkai

Doch nun heißt der neue König Makoto Shinkai. Das Zepter hat der Mittfünfziger 2016 mit Your Name. ergriffen, der zwar von den hiesigen bedeutenden Filmfestivals noch nicht registriert wurde, wohl aber vom Publikum. Die Geschichte über zwei Jugendliche aus verschiedenen Regionen Japans, die ihre Körper tauschen, stieß Chihiros Reise vom Treppchen der erfolgreichsten Animestreifen aller Zeiten. Chapeau!

Nun, zwei Filme später, hat Shinkai mit seinem siebten Film Suzume auch die Festivalselektion nachgeholt. Suzume war eine wirbelnde Wohltat im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb und lockte in Ostasien bereits Millionen von Menschen in die Kinos. Wie in seinem ersten Kurzfilm geht es um eine junge, einsame Frau, Suzume, um den Regen in all seinen Facetten und um eine Katze.

Nur mit Bild und Musik – das ist die Magie von "Suzume"
Crunchyroll Deutschland

Von Katzen und Würmern

Die Katze ist ein garstiges Vieh, tut lieb und zuckersüß, hat’s aber faustdick hinter den Katzenohren. Das liegt daran, dass sie eigentlich Daijin ist, eine Art Dämon, der dafür sorgen will, dass ein riesenhaft violetter Wurm, der aus einer düsteren Nebenwelt stammt, Unheil über die Menschen bringt.

Erweckt hat ihn Suzume, nachdem sie eines Morgens, anstatt in die Schule zu fahren, einem schönen Fremden in eine leerstehende Geisterstadt nahe ihrer Siedlung gefolgt ist und dort eine geheime Tür zu besagter Nebenwelt geöffnet hat. Dass der Wurm wie ein Wirbelsturm aus der Tür herausschnellt, ist kein Zufall, denn auch wenn er ein wenig an das Monster in Stranger Things erinnert, soll er doch etwas Ur-Japanisches symbolisieren: die Bedrohung durch Umwelt- und Naturkatastrophen – Fukushima oder das Tōhoku-Erdbeben 2011, das über 20.000 Menschenleben auslöschte –, mit der die Bewohner Nippons tagtäglich leben. Auch Suzumes Mutter ist einem solchen Unglück zum Opfer gefallen, und der Verlust nagt noch immer an dem Mädchen.

Das Tor zur anderen Welt transportiert Suzume in die Vergangenheit zurück.
Foto: SUZUME Film Partners

Die Ruinen Nippons

Ein anderes Japan-Motiv sind die sogenannten Haikyo, wegen des Bevölkerungsschwunds verwaiste Stadtviertel, Vergnügungsparks oder Industriebrachen, die dem Film als Schauplätze dienen. In diesen Ruinen befinden sich die Tore zur Nebenwelt, die Souta, der hübsche Fremde, als Torhüter zu schließen sucht. Leider hat die fiese Katze Souta in den dreibeinigen Kinderstuhl Suzumes verwandelt, weshalb diese die Aufgabe des Torverschließens auf sich nimmt. Gemeinsam mit dem sehr schnell holpernden Stuhl begibt sie sich also auf eine Haikyo-Tour quer durch Japan, um den Wirbelwurm zu bannen.

Katastrophentourismus könnte man das auch nennen, was Suzume hier anstellt. Im Kino darf man sich indes über die fantastischen Szenerien freuen, die Shinkai in den leuchtendsten Farben und mit den erhebendsten Lichtreflexen auf die Leinwand zaubert. Das Shinkais Bilder bei aller Zauberhaftigkeit sehr real sind, weiß man schon seit Your Name. Kein anderer Animekünstler hat bislang so fotorealistisch gearbeitet – nicht was die Figuren betrifft, sondern die Schauplätze, worin sich die Figuren wie Fische im Wasser bewegen.

Der Zauber realer Orte bei Makoto Shinkai
Kinda Neet

Das Genie von Shinkais Filmen liegt nicht im Protzigen, von dem es einiges gibt, sondern im Kleinen: den realen Orten nachempfundenen Szenerien, den menschlichen Momenten, dem Regen, der Sonne und dem Witz einer fiesen Katze. Eben das ist es, was Shinkais Bilderwelten im Allgemeinen und Suzume im Besonderen so einzigartig und sehenswert macht. (Valerie Dirk, 15.4.2023)