Fantasie und Poesie tanzen zusammen in die Zukunft: Zum 50-Jahre-Jubiläum des Serapionstheaters zitiert man sich im Odeon schon einmal gerne selbst.
Foto: Martina Stapf

Herrlich! Am Anfang geht der Vorhang zu. Aber nicht einfach in Form von zwei Seitenteilen, die sich schließen, nein, er wird hochgezogen und die Bühne so erst einmal verborgen. Eine Einstimmung, die unterstreicht: Sobald der Vorhang dann wirklich aufgeht, beginnt ein spezielles Erlebnis. Der Effekt gelingt: Das jetzt aufmerksame Publikum erblickt fünf Frauen und ebenso viele Männer, die sich auf Nebelwolken vor einem nächtlichen Sternenhimmel drehen.

Schon dieser Einstieg in Salto Vitale, die jüngste Uraufführung des Serapionstheaters im Odeon unter Max Kaufmann, regt die Vorstellungskraft an. Was dann kommt, führt tatsächlich zu einem Ort, an dem Fantasie und Poesie miteinander in die Zukunft zu tanzen scheinen. Und das fühlt sich an wie das Aufleben eines sehr analogen Steampunk-Theaters, dessen geheimnisvolle Akte mit den Assoziationen in den Köpfen der Zuschauerinnen und Besucher spielen.

Pina-Bausch-Gefühl

Erst wird zum Tango angesetzt – aber nur in Ansätzen, sodass das Geschehen wie eine schwärmerische Wunschvorstellung wirkt, die sich jemand im Bedauern macht, das Tangotanzen nicht wirklich zu können. Genau hier vermitteln Atmosphäre und Musik einen zarten Hauch von Pina-Bausch-Gefühl. Vielleicht auch deswegen, weil die charismatischen Performer wie beim Tanztheater Wuppertal keine Youngsters mehr sind.

Das Publikum erlebt eine Zeitreise ins Serapions-Erinnerungstheater. Szenenzitate aus unterschiedlichen Produktionen der vergangenen fünfzig Jahre lösen einander ab: aus Bal Macabre von 1979 zum Beispiel oder dem 1982 entstandenen Double & Paradise – oder aus Serapion, mon amour, das ist beinahe zwei Dezennien her.

Erst wird zum Tango angesetzt – aber nur in Ansätzen, sodass das Geschehen wie eine schwärmerische Wunschvorstellung wirkt, die sich jemand im Bedauern macht, das Tangotanzen nicht wirklich zu können.
Foto: Martina Stapf

In einer wirbeligen Aktion kleiden die Serapionsgestalten einander um. Eine Gestalt wird in Packpapier gewickelt, einer anderen hängen Schuhe um den Hals, da ist eine lebende Puppe mit einer toten Puppe in Händen, dort eine Tänzerin, um die ein Seil gewunden wird. Die Figuren schwelgen in Einbildungen, eine Ballerina schwingt lasziv, vielleicht stoned ihr Tutu und zeigt lose baumelnde Strumpfhalter her.

Dann wieder fahren drei Männer gackernd vor Lachen in einem viel zu kleinen Boot, ein vorgetäuschter epileptischer Anfall wird ignoriert – und noch einmal klingt ein Tango an. Hier sind des Meeres Wellen aus weichem Stoff, ufert das Verhalten der Figuren ins erratisch Übermütige aus, dort wird eine Glatze geleckt.

Zeit in Schleifen

All das destilliert eine künstlerische Medizin gegen die Dehydrierung der Vorstellungskraft durch die digitale Kulturindustrie auf der einen und ästhetisch angeranztes Erziehungstheater auf der anderen Seite. Dafür löst Salto Vitale die westliche Idee von einer linearen Zeit auf und nutzt ein weiteres Weltzeitverständnis, das aus Schleifen besteht, die so unvorhersagbar verlaufen wie das menschliche Dasein selbst.

Deswegen ist dieses Stück, das trotz einiger Schrammen bis zur letzten Minute wunderbar funktioniert, so erstaunlich – beinahe schmerzlich – progressiv. (Helmut Ploebst, 14.4.2023)