Ghislain Bardout und sein Team untersuchen die bisher wenig erforschten Unterwasserwälder der Arktis.

Foto: Rolex/Franck Gazzola

Die eisigen Fluten der Arktis nahe der norwegischen Inseln von Svalbard – im Deutschen Spitzbergen genannt – sind eine denkbar unwirtliche Umgebung für den Menschen. Und doch gibt es Forschende, die tief hinab ins Meer des Nordatlantiks tauchen, um diese unbekannte Welt zu erkunden. Im Fokus des Interesses steht etwa die sogenannte mesophotische Zone zwischen 30 und 200 Meter Tiefe.

Hier liegt eine Art "Twilight-Zone" mit schwindendem Lichteinfall, die noch vergleichsweise wenig erforscht ist. Hierher kommt man nur mit Spezialequipment, dessen Nutzung schon bei warmem Klima sehr aufwendig ist. Bei den arktischen Temperaturen, die über dem Meer regelmäßig minus 30 Grad Celsius erreichen, werden die Taucheinsätze zur Härteprüfung für Mensch und Material.

Das Team von "Under The Pole" in den arktischen Gewässern.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Glocken, Blumen, Farne

Man könnte glauben, dass hier so weit im Norden und so tief unter der Meeresoberfläche ohnehin kaum Leben zu finden ist. Aber weit gefehlt: Es gibt zwar keine Algen oder andere Lebewesen, die auf Sonnenlicht angewiesen sind. Aber dennoch existieren komplexe, ausufernde Meeresökosysteme. Im Scheinwerferlicht der Entdecker taucht etwa plötzlich ein Wald von Hydrozoen auf – einer Art von Nesseltieren, die mit Korallen und Quallen verwandt sind. Die faszinierenden Formen der fest im Untergrund verankerten Lebewesen "gleichen Glocken, Blumen oder Farnen".

Ghislain Bardout und Emmanuelle Périé-Bardout haben im Zuge einer Tauchexpedition in den Gewässern um Svalbard im Jahr 2022 eine Unterwasserkolonie in etwa 50 bis 80 Meter Tiefe entdeckt, die sie mit diesen Worten beschreiben. Im Rahmen ihrer aktuellen "Under the Pole"-Expeditionsserie, die von der Perpetual-Planet-Initiative der Uhrenmarke Rolex unterstützt wird, erkundet das französische Entdeckerteam bis Ende 2023 auch südlichere Gefilde nahe den Kanarischen Inseln und in der Karibik.

Die Arbeit in bis zu 100 Meter Tiefe ist technisch anspruchsvoll.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Wie auf Erde, so auch im Wasser

Eine ihrer besonderen Expertisen ist aber das Tauchen in der Arktis. Bei früheren Expeditionen in ihren Under-the-Pole-Programmen erkundeten sie bereits das Meer unter dem Packeis nahe dem geografischen Nordpol oder die Unterwasserwelt entlang der grönländischen Westküste.

Ziel der neuen Expeditionsreihe ist es, einen Beitrag zur Erforschung der sogenannten Marine Animal Forests (MAF) zu leisten, die in vielen Meeresregionen in verschiedenen Tiefen zu finden sind. "Bei diesen Unterwasserwäldern handelt es sich um genau dasselbe Prinzip wie bei Wäldern an Land: nämlich um dreidimensionale Strukturen, die Leben beheimaten", erklärt Ghislain Bardout. Korallenriffe, Molluskenbänke, Seegraswiesen, Gorgoniengärten gehören dazu. Wie die Wälder an Land bilden die unterseeischen Pendants einen schützenden Raum. Hier werden Strömungen gebrochen, der Lichteinfall reduziert sich, und es entsteht ein besonders Umfeld für Mikroorganismen.

In der Tiefe der Arktis entdeckten die Forscher einen Wald von Hydrozoen – eine Art von Nesseltieren, die mit Korallen und Quallen verwandt sind.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

"Eine der wichtigsten Aufgaben ist, die Meereswälder im Kohlenstoffhaushalt der Ozeane und die schützende Rolle dieser Ökosysteme im Klimawandel besser zu verstehen", erklärt Bardout in einem Interview im Wissenschaftsmagazin New Scientist. Die lebenden Unterwasserwälder gelten als bedeutende Kohlenstoffsenken. Viele Details zu ihrer Speicherfunktion sind allerdings noch ungeklärt. Gleichzeitig sind die arktischen Meereisflächen in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen. Welche Auswirkungen diese Veränderung auf die Wasserorganismen hat, ist weitgehend unklar.

Schutzmaßnahmen

Das Forschungsteam möchte im Zuge der Expeditionen zudem die Verbreitung dieser wichtigen Ökosysteme kartieren und die Grundlagen für künftige Schutzmaßnahmen schaffen. Teil der Mission ist es natürlich auch, zur Bewusstseinsbildung über die Bedeutung der Marine Animal Forests beizutragen – sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen.

An der Expedition nach Svalbard waren insgesamt 13 akademische Institutionen aus Frankreich, Norwegen, Spanien, Italien, Belgien und Brasilien beteiligt. Die richtige Planung war entscheidend. So mussten etwa Strömungskarten analysiert werden, um Gebiete zu identifizieren, in denen die Unterwasserwälder mit hoher Wahrscheinlichkeit anzutreffen sind. Denn starke Strömungen sorgen für eine hohe Verfügbarkeit an Nährstoffen und schaffen so die Grundlage für die mysteriösen Tierkolonien. Dennoch war eine Reihe von Tauchgängen an verschiedenen Orten notwendig, um schließlich tatsächlich einen Treffer zu landen.

"Alles ist hier schwierig"

Zu den wissenschaftlichen Herausforderungen kommen die hohen technischen Hürden, die mit dem Tauchen in großen Tiefen im arktischen Umfeld verbunden sind. Die Kreislauftauchgeräte, die das Team benutzt, können die Atemluft nach Abscheidung des ausgeatmeten CO2 wiederverwerten, was längere Tauchgänge erlaubt. Doch aufgrund der langen Dekompressions- und Aufstiegszeiten stehen am Tauchziel oft nur wenige Minuten zur Verfügung.

Unter diesen Walrossen in Spitzbergen existiert eine bisher kaum erforschte Unterwasserwelt.
Foto: Rolex/Franck Gazzola

Die kalten Temperaturen sind dabei nicht nur für die Menschen zermürbend, sie schaden auch dem Material. Kunststoffteile drohen porös zu werden, mechanische Apparaturen zu gefrieren. "Alles ist hier schwierig", sagt Emmanuelle Périé-Bardout, Co-Direktorin von Under the Pole: "Von der Navigation bis hin zu Reparaturen. Und man muss die Wind- und Eisverhältnisse ständig mit einkalkulieren." Bei den vergangenen Arktisexpeditionen, die noch höher in den Norden führten, hat man aber bereits viel Erfahrung gesammelt. Mitglieder des Under-the-Pole-Teams waren etwa die Ersten, die sowohl in der Polarregion als auch unter dem Packeis in mehr als 100 Meter Tiefe tauchten.

Neues Schiff

Auf künftigen Tauchgängen sollen aber noch mehr technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Bald läuft das neue Expeditionsschiff, die Why not, vom Stapel, die die aktuelle Why ersetzt. Sie wird mit spezialisierter Tauchgas-Infrastruktur, einer Dekompressionskammer, einem wissenschaftlichen Labor und einem Aquarium ausgestattet sein.

Sie beherbergt zwei Tauchkapseln, die längerfristige Beobachtungen in einer Tiefe bis zu 50 Metern erlauben – Bardout ist auch ein Pionier in dieser Spielart der Unterwasserexploration. Gleichzeitig werden mit dem Aluminium-Schooner auch neue Orte erreichbar, die bisher noch nicht erkundet werden konnten, erklärt der Tauchexperte. "Meines Wissens existiert – zumindest für wissenschaftliche Zwecke – noch kein Schiff dieser Art."

Auch wenn nun zuerst Erkundungen in viel wärmeren Weltgegenden auf dem Programm stehen, werden die Extremtaucher auch bald wieder Projekte in der Arktis in Angriff nehmen. Dann sollen nicht nur neue Ökosysteme gefunden, sondern auch die bereits bekannten wiederaufgesucht werden. Werden die Klimakatastrophe und der Rückgang des Packeises Spuren hinterlassen haben? Périé-Bardout: "Wir werden zurückkommen und die Entwicklung beobachten können." (Alois Pumhösel, 28.4.2023)