Medienwissenschafterin Annika Sehl.

Foto: Christine Blohmann/Die Hoffotografen

Wien – Am Montag, 17. April, laden die Neos zur Medienenquete ins österreichische Parlament. Zu diskutieren gibt es genug: von der Inseratenkorruption über die wirtschaftliche schwierige Lage vieler Medienhäuser bis hin zum geplanten ORF-Gesetz, das in der Zielgeraden ist. Zu den Diskutantinnen und Diskutanten gehört Annika Sehl. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Journalistik mit dem Schwerpunkt Medienstrukturen und Gesellschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. DER STANDARD bat sie vorab, ein paar Fragen zur Rolle öffentlich-rechtlicher Medien zu beantworten und dazu, welche Auswirkungen künstliche Intelligenz auf den Journalismus haben wird.

STANDARD: Sie sind Teil des von der Rundfunkkommission der Länder eingesetzten Zukunftsrats und sollen bis Herbst Empfehlungen für die Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland erarbeiten. Warum braucht es überhaupt noch öffentlich-rechtliche Medien?

Sehl: Wichtig ist vorab, dass ich in diesem Interview als Wissenschafterin spreche, die zu öffentlich-rechtlichen Medien forscht, und nicht als Mitglied des Zukunftsrats. Öffentlich-rechtliche Medien sind, anders als privatwirtschaftlich organisierte Medienanbieter, der Allgemeinheit verpflichtet und haben einen gesellschaftlichen Auftrag, der immer noch hochrelevant ist, gerade in Zeiten von Fragmentierung, Polarisierung oder Desinformationen: Sie sollen zur freien individuellen und öffentlichen Meinungs- und Willensbildung beitragen. Sie veröffentlichen Angebote aus den Bereichen Information, Bildung, Beratung, Kultur und Unterhaltung, die sich über den freien Markt und Angebot und Nachfrage in dieser Form oft nicht finanzieren lassen würden, gerade wenn Budgets knapper werden.

Dabei haben sie in ihrer Berichterstattung den Grundsätzen Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit zu folgen. Aus einer Vielzahl an Studien zu verschiedenen Ländern wissen wir, dass sich starke öffentlich-rechtliche Medien beispielsweise positiv auf das politische Wissen der Bürgerinnen und Bürger auswirken. Das heißt nicht, dass es zuweilen nicht auch berechtigte Kritik an öffentlich-rechtlichen Medien gibt. Auch sind einige Reformen nötig, um öffentlich-rechtliche Medien fit für die Zukunft zu machen.

STANDARD: Wie lässt sich die Akzeptanz öffentlich-rechtlicher Medien in Zeiten veränderter Mediennutzung erhöhen? Vor allem linear und beim jungen Publikum, wo Öffentlich-Rechtliche mit Streamingdiensten, Tiktok und Social Media konkurrieren.

Sehl: Zum einen müssen Inhalten so aufbereitet sein, dass sie junge Zielgruppen ansprechen. In Deutschland ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk beispielsweise mit Funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF, neue Wege gegangen. Dazu arbeiten ARD und ZDF mit Creatorinnen und Creators bzw. Produzentinnen und Produzenten für Webvideos in ganz Deutschland zusammen, neben etablierten auch mit neuen Anbietern. Zum anderen verbreiten sie dieses Angebot dann aber auch genau auf den Social-Media-Plattformen wie Instagram, auf denen junge Zielgruppen heute sind.

Ich halte es auch – wieder aus demokratietheoretischer Sicht – für wichtiger, dass Inhalte die Zielgruppe erreichen, unabhängig von der Plattform, als dass das weiterhin im Linearen geschehen muss, wie Sie in Ihrer Frage formuliert haben. Für Medienanbieter besteht im Kontext von Social Media aber ein Spannungsfeld zwischen den Reichweiten, die sich über diese Plattformen erzielen lassen, und Abhängigkeiten von den Plattformunternehmen. Denn die Machtverhältnisse sind ungleich, und die Eigeninteressen der Plattformunternehmen stehen nicht unbedingt mit denen von Medienanbietern im Einklang. Für öffentlich-rechtliche Medien ergeben sich – anders als beispielsweise für Zeitungsverlage – keine Fragen zur Monetarisierung, aber insbesondere solche zum Gemeinwohl, da die Plattformen kommerziell operieren und ihre Formate und Algorithmen entsprechenden Logiken folgen.

STANDARD: Welche Rolle spielt dabei die Finanzierungsform? Deutschland setzt ja bereits seit einigen Jahren auf eine Haushaltsabgabe.

Sehl: Es ist naheliegend, dass eine grundsätzliche Akzeptanz öffentlich-rechtlicher Medien hilfreich für die Zahlungsbereitschaft ist. In der Tat ist in Deutschland vor einigen Jahren auf eine Haushaltsabgabe umgestellt worden. Grundlage war damals ein Gutachten des früheren Verfassungsrichters Paul Kirchhof im Auftrag von ARD, ZDF und Deutschlandradio, das eine Reform der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks empfahl. Heute tragen viele ihr Radio- und Fernsehgerät in Form mobiler Geräte wie Smartphones mit sich, sodass die vorherige Erfassung nach Empfangsgeräten in einem Haushalt überholt erschien. Ein weiteres Argument war, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nur durch einen Rundfunkbeitrag zu finanzieren sei, zu dem alle Empfangsfähigen dieses Rundfunks beitrügen. Er wird somit nicht nur für empfangene Sendungen erhoben, sondern vielmehr für das gesamte Nutzungsangebot.

STANDARD: In Österreich wurde auch eine Finanzierung aus dem Budget diskutiert, was die Abhängigkeit von der Politik wohl erhöht hätte?

Sehl: Eine Finanzierung aus dem Staatshaushalt erhöht ganz grundsätzlich die Möglichkeit für politische Einflussnahme.

STANDARD: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk – etwa der ORF – ist seit jeher Zankapfel und im Visier politischer Parteien. Wie lässt sich parteipolitischer Einfluss am besten zurückdrängen?

Sehl: Das reicht von einer staatsfernen Ermittlung des Finanzbedarfs und Unabhängigkeit der Finanzierung über faire und transparente Besetzungsverfahren für Intendantinnen und Intendanten und Führungspersonal bis hin zu Aufsichtsgremien, die für die gesamte Gesellschaft stehen und in denen der Einfluss von Vertreterinnen und Vertretern von Staat und Parteien mindestens klar begrenzt ist.

STANDARD: Der ORF schielt voller Neid auf ARD und ZDF, die mit Funk über eine Plattform verfügen, die an junges Publikum adressiert ist und es bindet. Der ORF darf solche Angebote aus gesetzlichen Gründen nicht anbieten. Wie wichtig ist Funk für ARD und ZDF?

Sehl: Eine Bekanntheitsstudie zu Funk aus dem vergangenen Jahr (Funk-Bericht 2022) ergab, dass 86 Prozent der 14- bis 29-Jährigen Funk kannten oder mindestens ein Format davon. Etwa drei Viertel der Zielgruppe hatten schon einmal Inhalte von Funk genutzt. Das sind sechs Jahre nach dem Start sicherlich hohe Werte.

STANDARD: In Österreich wird derzeit über ein neues Gesetz verhandelt, das dem ORF mehr Spielraum im Digitalen gibt. Auf der anderen Seite könnte ORF.at inhaltlich schrumpfen, weil Medienhäuser das ORF-Portal als zu dominant und textlastig erachten. Wie schafft der öffentliche-rechtliche Rundfunk in Deutschland diesen Spagat?

Sehl: Auch in Deutschland gab es jahrelange Rechtsstreitigkeiten um die Textlastigkeit bzw. "Presseähnlichkeit" der "Tagesschau"-App am Stichtag des 15. Juni 2011. "Presseähnliche Angebote" sind dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland verboten. Wobei die Problematik besteht, dass dieser Begriff sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann. Der Schwerpunkt der Telemedienangebote muss jedoch auf Videos und Audios liegen. Texte dürfen dagegen nicht im Vordergrund stehen. Ausgenommen davon sind Inhalte, die einen Bezug zu einer konkreten Sendung haben.

Seit 2019 gibt es eine gemeinsame Schlichtungsstelle von ARD und BDZV, dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger, für Streitfälle. Sie ist paritätisch besetzt und besteht aus Präsident und Vizepräsident des BDZV, einem Mitglied der Geschäftsleitung des jeweils betroffenen Verlags sowie ARD-Vorsitzender, stellvertretender ARD-Vorsitzender und Intendantin bzw. Intendant der jeweiligen Rundfunkanstalt, deren Angebot betroffen ist.

STANDARD: Kritikerinnen und Kritiker geben zu bedenken, dass es in Zeiten von grassierenden Fake-News fatal wäre, Angebote wie ORF.at noch weiter zu reglementieren, weil sie als Garanten für seriösen Journalismus gelten. Wie sehen Sie das?

Sehl: Ich möchte dazu auf meine erste Antwort verweisen, warum öffentlich-rechtliche Medien auch und gerade heute in Zeiten von Desinformation eine hochrelevante Aufgabe haben.

STANDARD: Künstliche Intelligenz wie ChatGPT ist in aller Munde und wird den Journalismus nachhaltig verändern, wird prognostiziert. Wie?

Sehl: Hier sind viele Möglichkeiten entlang des gesamten Produktionsprozesses denkbar oder schon Realität, von der Themenfindung bis zur Recherche – zum Beispiel aus Daten, dem Fact-Checking, Übersetzungen, dem Erstellen diverser Inhalte mittels künstlicher Intelligenz bis hin zur Distribution. Zum Beispiel mittels Empfehlungen, die auf Daten der Nutzerinnen und Nutzer basieren.

STANDARD: Nachrichten vom Avatar und Big Data für Recherchen: Gibt es Grenzen für künstliche Intelligenz oder sind die Einsatzfelder unendlich?

Sehl: Im Moment sehen wir, dass es auch zu Falschaussagen kommt – was gerade im Journalismus problematisch ist – und die künstliche Intelligenz immer nur so schlau sein kann wie das Datenmaterial. Aber grundsätzlich ist noch vieles denkbar, insbesondere dass Medienangebote noch stärker personalisiert werden mit allen Vorteilen und Risiken.

STANDARD: Öffnen solche Programme Tür und Tor für Fälschungen und braucht es hier Reglementierungen wie etwa eine Kennzeichnungspflicht für KI-generierte Bilder und Texte?

Sehl: Eine Kennzeichnungspflicht für journalistische Inhalte, die von einer künstlichen Intelligenz erstellt wurden, halte ich aus Transparenzgründen für wichtig. Auch von Menschen erstellte Beiträge sind in der Regel per Name oder zumindest Namenskürzel gekennzeichnet. (Oliver Mark, 16.4.2023)