Ihr Leben mit Mitte 50 hat sie sich eigentlich anders vorgestellt. Monika Varga geht nicht mehr ins Theater, ins Kino, kauft keine Kleidung mehr, geht nicht mehr zum Friseur oder zur Kosmetikerin. Ins Restaurant gehen ihr Mann und sie vielleicht noch einmal im Jahr. "Ich hätte mir immer gewünscht, einmal nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, was ich einkaufen kann", sagt die freischaffende Lehrerin ihre Kaffeetasse umklammernd an ihrem Küchentresen.

"Aber irgendwie erreicht man hier diese Grenze zum guten Leben nicht." Ihr Blick geht am Küchenfenster hinaus in den kleinen leeren Garten. Die Sonne strahlt jetzt hinter einer Wolke hervor, die hellgraue Wohnküche in dem Reihenhaus eines Vororts von Budapest in Ungarn strahlt. "Dabei geht es uns vergleichsweise noch okay."

Teuerung, die Krise, der Krieg und Energieknappheit sind überall in der EU zu spüren. In Österreichs Nachbarland Ungarn jedoch nimmt die Krise immense Züge an. Das Land ist so gebeutelt von der eigenen Inflation wie kein anderes in der EU – und das mit Abstand.

Die meisten Menschen in Ungarn leben zwar in Eigentum, aber die Nebenkosten sind für viele nicht leistbar.
Foto: Der Standard/Melanie Raidl

Die Inflationsrate schnellte in diesem Jahr auf 25,5 Prozent (Österreich liegt bei elf Prozent, der EU-Durchschnitt bei neun) hinauf. Je nachdem, welche Güter betrachtet werden, geht die Rate bis auf 45 Prozent oder gar fast ins Dreistellige.

Diese Geschichte handelt aber nicht von Armut in Ungarn. Sondern von einem Land, welches die Warnsignale der Wirtschaftskrise ignorierte, bis sie die Mittelschicht mit voller Wucht traf. Ungarn sollte eigentlich auf dem Weg zu einer prosperierenden Zukunft sein. Oder sein wollen.

Der rechtspopulistische Premierminister Viktor Orbán und seine Regierung schwärmten 2018 davon, dass Ungarn bis 2030 zu den fünf "besten" Ländern in der EU gehören werde, in denen es sich am besten leben, wohnen und arbeiten lässt.

Volle Fahrt im Rückwärtsgang

Das konkrete Ziel war gewiss: Österreich bis 2030 zu überholen. Der Parlamentsabgeordnete János Lázár setzte noch eins drauf: Jemand, der die österreichisch-ungarische Grenze überquert, würde bald genauso keine Unterschiede merken wie jemand, der von Deutschland nach Österreich fährt. Jetzt geht die Fahrt rückwärts.

Politisch hat sich Orbán im letzten Jahr mehr denn je von anderen EU-Staaten abgekapselt. Seine Ansicht ist prorussisch, seine Appelle propagandistisch: Die Nato und die USA hätten Schuld am Krieg, die Ukraine habe provoziert, die westlichen Sanktionen und Brüssels Unterstützung des Krieges seien die Ursache für die Megainflation. Selbst die freundliche Beziehung zu Polen bröckelt gewaltig. Wie ist es so weit gekommen?

Es beginnt eine Spurensuche in Budapest und Umgebung. Ein paar leerstehende Geschäftslokale, die Restaurants halbvoll, aber zahlreiche Touristen. Die Aufbauarbeiten für den Ostermarkt sind in vollem Gang, bei einem Stand mit Baumkuchen blickt die Verkäuferin abwechselnd nach links und rechts – vielleicht will doch noch jemand den süßen Teig kaufen. Wer die Schieflage sehen will, muss genauer hinsehen.

Viele Lokale stehen leer.
Foto: Der Standard/Melanie Raidl

Eine Social-Media-Managerin in der Stadt erzählt, sie wisse nicht, ob sie im Juni heiraten könne. Der Gesamtpreis für ihre Feier habe sich verdreifacht. Sie kauft nur noch Grundnahrungsmittel, unternimmt kaum etwas draußen, Reisen könne sie vergessen.

"Keine guten Aussichten"

Ein IT-Angestellter verdiene "für ungarische Verhältnisse" gut, müsse aber für die einfachsten Haushaltsausgaben jetzt Geld weglegen. "Eine Freundin will wieder von Deutschland nach Ungarn ziehen. Ich habe ihr gesagt, bleibe gleich dort, hier gibt es keine guten Aussichten", erzählt eine Buchhalterin. Es sei "schrecklich", sagt sie, Putzmittel und einige Lebensmittel seien um das Dreifache teurer.

Rund 30 Kilometer entfernt, im Städtchen Veresegyház: Die Lehrerin Varga möchte den Einblick in ihre Situation bei ihrem zweiten Standbein, einem Solarium, beginnen. Das kleine Geschäftslokal ist von außen deutlich an Bildern gebräunter schlanker Frauen zu erkennen.

Seit 16 Jahren steht hier das Napkirály Szolárium ("Sonnenkönig-Solarium"). Drei Kabinen sind zur Auswahl – für umgerechnet knapp drei Euro für zehn Minuten. Kürzlich waren es noch 2,50 Euro. Um wegen der Energiepreise nicht ins Minus zu rutschen, musste sie den Preis erhöhen.

Seit 16 Jahren sieht das Solarium von Monika Varga nahe Budapest genau so aus.
Foto: Der Standard / Melanie Raidl

Den Laden zu erweitern oder Personal anzustellen ging bislang nicht. Die Einnahmen gehen direkt in die monatlichen Betriebskosten zu Hause. Selbstständig gibt Varga noch Sprachstunden in Portugiesisch, Deutsch und Englisch im Homeoffice. Ihr Mann repariert im Außendienst Whirlpools. Die drei Einkommen sind das Minimum, um ihr Haus zu erhalten und die beiden erwachsenen Kinder zu unterstützen.

Ihr Städtchen wurde in den letzten 20 Jahren wohlhabend, sagt Varga im Auto auf dem Weg zu ihrem Haus. Viele, die bei internationalen Unternehmen in Budapest arbeiten, wollten ein schönes Haus im Ruhigen. Fein polierte Fassaden, dicke Autos, ein idyllischer Teich mit Parkbänken. Veresegyház hat etwas von einem burgenländischen Kurort. Zu dieser Blase gehöre sie nicht, betont Varga. Sie war schon vor den Gutverdienenden da, in einem kleinen Reihenhaus.

Auf alles verzichten

Bei Karfiolsuppe und glutenfreiem Kuchen möchte sie nicht mit Smalltalk ablenken. Sie möchte direkt damit loslegen, was ihr auf dem Herzen liegt. Für einen normalen Wocheneinkauf, vor allem von Lebens- und Putzmitteln, zahlte sie vor der Inflation rund 30 Euro. Jetzt sind es immer über 65 Euro. Statt Mineralwasser gibt es nur noch Wasser aus der Leitung. Auf alles, was nicht dringend notwendig ist, wird verzichtet. Das ganze letzte Jahr hat Varga das Doppelte vom Jahr davor gearbeitet, um noch leben zu können, sagt sie.

Als der Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 begann, stand Ungarn gerade kurz vor der Parlamentswahl. Orbáns Regierung startete eine Ausgabenoffensive. Die 13. Pension, der Preisdeckel auf Benzin, Gehaltserhöhungen für Beamte. Dabei fehlten dem Land schon wegen der Pandemie die Ressourcen.

Dazu beschloss die Regierung noch Preisdeckel für Lebensmittel und Energie. Die künstlichen Obergrenzen ließen sich nach der Wahl nicht mehr halten. Die Preise schnellten in die Höhe, die Inflation geriet außer Kontrolle. Schuld daran, wiederholte Orbán mehrmals, waren die Sanktionen der EU gegen Russland.

Bei Lebensmitteln beträgt die Inflation teilweise 50 Prozent.
Foto: Der Standard/Melanie Raidl

Lajos Bokros sieht das anders. Er ist ungarischer Ökonom und Professor für Wirtschaft und öffentliche Ordnung an der Central European University. "Man kann ohne weiteres sagen, dass der wichtigste Grund für die hohe und hartnäckige Inflation in Ungarn die Regierungspolitik ist."

Bokros war in den 90er-Jahren selbst Finanzminister Ungarns, noch bevor das Land Teil der EU war. Die hundertprozentige Abhängigkeit Ungarns von russischer Energie sei eine Sache. Auch dass die Zentralbank den Leitzins nicht aggressiv genug hochgeschraubt habe. Doch der Ausgabenrausch vor der Wahl und die instabilen Preisdeckelungen seien schuld an der Teuerungsexplosion. Die schwierige Stellung Ungarns in der EU hilft dabei nicht.

22 Milliarden Euro auf Eis

Ungarn musste bisher auf 22 Milliarden Euro EU-Gelder verzichten. Die Kommission hatte Ende letzten Jahres entschieden, die Zahlungen einzufrieren. Es könne nicht garantiert werden, dass das Geld nicht korrumpiert wird, hieß es. Verfolge Ungarn wieder demokratische Werte, werde es die Summe bekommen.

Eine politisch involvierte Person will sich in Budapest dazu treffen – unter der Bedingung, völlig anonym zu bleiben und auch ihre Partei nicht beim Namen zu nennen. Vielleicht lande sie sonst noch im Gefängnis. Sie wartet nahe einem Einkaufszentrum, führt zu einem Lokal ums Eck. Ein Tisch ist reserviert.

Nachdem viele Lokale schließen mussten, sind die übrigen immer voll. In dem lebhaften Laden flüstert die Gesprächspartnerin jedes Mal, wenn sie den Namen Orbán erwähnt.

Die Abwärtsspirale beginne nicht erst beim Krieg, ist sie sich sicher. Auch zuvor war die Geldpolitik willkürlich. EU-Projekte in Ungarn wurden finanziert, die es letztlich gar nicht gab. Und das Geld dafür? Keiner weiß, wo es ist, aber viele denken, es zu wissen. Die Stadtverwaltungen auf dem Land werden von der Regierung gesteuert. Sie setzt Parteifreunde in Entscheidungspositionen in die Gemeinden.

Dazu kommt, dass Orbán die Medien in seiner zweiten Amtszeit regierungstreu geformt hat – unabhängige Medien sind eine Seltenheit geworden. Menschen auf dem Land lesen oder sehen im Fernsehen somit nur die Ansicht der Regierung, ohne kritische Einordnung. "Viele weniger gebildete Menschen, die auch keine andere Sprache sprechen", sagt die politisch Vertraute, "glauben also die Propaganda, dass Brüssel und die Sanktionen schuld an ihrem Leid sind."

Mehr arbeiten, weniger ausleihen

Ein Spaziergang durch das Elisabethviertel in Budapest vermittelt ein hoffnungsvolleres Bild. Designgeschäfte, hippe Cafés und Vintageläden. Die Straßen sind belebt, es wird in vielen Sprachen gesprochen. Es ist eine weltoffene Ecke in Budapest. Mitten im Viertel hat die Bäckerei Arán geöffnet, laute Musik ist schon vor den geöffneten Terrassentüren zu hören.

Teures Brot ist gar nicht mehr so viel teurer: Attila Pécsi sieht die Teuerung als Chance für sein Geschäft.
Foto: Der Standard / Melanie Raidl

Attila Pécsi bindet sich eine Schürze um. Brot hat in Ungarn eine Teuerungsrate von 80 Prozent in einem Jahr erreicht. Für viele Leute in dem Land ein Kampf, denn Brot gehört für die Menschen zu den meisten Mahlzeiten. "Wir waren vor der Teuerung auch schon nicht billig", sagt Pécsi. Er erlernte die Sauerteig-Brotkunst in Irland mit seiner Frau, 2019 eröffneten sie ihre eigene Bäckerei in Budapest.

Die Preise mussten sie letztlich um 20 Prozent erhöhen, der originale Laib kostet nun fast drei Euro. Die Teuerung sieht er als Chance, denn das günstige Supermarktbrot – das nur 50 Cent kostete – erreicht nun fast den Preis seines Brotes. Eigentlich ist die Teuerung für ihn wie eine Chance.

Gehaltserhöhungen gibt es keine, die hat die Inflation gefressen. Aber: "Wir haben niemanden entlassen und auch keine Waren zurückgestellt." Seine Devise: mehr zu arbeiten, mehr zu produzieren, mehr zu verkaufen.

Auf diese Einstellung der Menschen setzt Orbán besonders. Er benötige keine Hilfsgelder von der EU, die Ungarn seien schon immer ein Volk hart arbeitender Leute gewesen. Sie würden es alleine aus der Misere schaffen. Statt noch mehr Hilfe von der EU lieber mehr arbeiten, war sein Appell in seiner Jahresrede im Februar.

Ruhig und idyllisch: Veresegyház, ein wohlhabender Ort in Ungarn.
Foto: Der Standard/Melanie Raidl

In Veresegyház gibt Varga abschließend einen Rundgang durch ihr Haus. Sie zeigt ihr neues Hobby in diesen Zeiten. Sieben Bücher türmen sich in ihrem Schlafzimmer, sie liest mehrere pro Woche. 2015, sagt sie, konnte sie mit ihrem Lehrergehalt so viel sparen, dass ein Familienurlaub für eine Woche in London möglich war. 2023 ist jetzt nicht einmal der Haushalt richtig drin. Sie weiß nicht, wie sie die Psychotherapieausbildung ihrer studierenden Tochter bezahlen soll.

"Man gelangt einfach nicht nach vorne, wird zurückgerissen", sagt Varga. Ihr Gefühl lässt sich eigentlich auf ganz Ungarn übertragen. 2030 zu den fünf stärksten EU-Ländern zu zählen scheint für das Land einstweilen unerreichbar. Ähnlich wie eine einstellige Inflationsrate Ende des Jahres, welche die Regierung versprach. (Melanie Raidl, 19.4.2023)