Frankreichs Präsident Emmanuel Macron steht weiter in der Kritik.

APA/AFP/LUDOVIC MARIN

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte in einer viertelstündigen, von allen französischen Sendern übertragenen Rede, man müsse "taub sein", um die Wut im Land zu überhören. "Wird die Reform akzeptiert?", fragte er zur Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahren, um sich gleich selbst zu antworten: "Offensichtlich nicht." Hinter der Wut stehe die Angst vor einer sozialen Deklassierung und einem Sinnverlust am Arbeitsplatz, analysierte der Präsident sehr richtig.

VIDEO: Die Fernsehansprache von Macron zu seiner umstrittenen Rentenreform ist nicht nur bei der Opposition auf scharfe Kritik gestoßen.
DER STANDARD

Seine Reaktion überzeugte weniger. Macron kündigte eine ganze Serie von Maßnahmen an, um namentlich zu erreichen, dass die Arbeit besser entlöhnt wird und dass die Berufslehre sowie die berufliche Sozialhilfe ausgebaut werden. Die Spitäler sollen wie auch die Schulen "besser" werden; 10 000 neu eingestellte Gendarmen sollen die Sicherheit in Landgegenden erhöhen, und die illegale Immigration soll entschlossener bekämpft werden.

All das will der rührige Staatschef in hundert Tagen schaffen, wie er sagte. Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, will er eine erste Bilanz ziehen.

Protestwelle

Die Zahl von hundert Tagen entspricht in etwa der Dauer der massiven Proteste gegen die Pensionsreform seit Januar. Macron ist sichtlich bemüht, mit einem neuen Aktivismus den Widerstand zum Verstummen zu bringen – und gleichzeitig all jene Lügen zu strafen, die behaupten, Macron sei politisch am Ende.

Der ausufernde, aber im einzelnen sehr vage Katalog glich fast einem Wahlprogramm, mit dem Unterschied, dass momentan keine Wahlen anstehen. Der Staatschef rühmte sich zudem, er habe 1,7 Millionen Arbeitsplätze geschaffen, und verstieg sich sogar zur Behauptung, er habe die "Einheit der Nation verstärkt".

Mélenchon: "Völlig aus der Realität"

Seine politischen Gegner konterten sarkastisch, Macron habe die Franzosen mit seiner Reform vor allem tief gespalten. Linkenchef Jean-Luc Mélenchon twitterte, Macron falle "völlig aus der Realität", nachdem er den Franzosen zwei Lebensjahre gestohlen habe. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen prangerte die "Brutalität" der Macron-Reform an, die ab September stufenweise in Kraft treten soll, wie der Staatspräsident ausführte.

Le Pen hatte zuvor ausgeführt, Macron habe die Wahl zwischen Neuwahlen, Rücktritt und einer Volksbefragung. Letztere ist an sich noch möglich: Ein entsprechendes Gesuch der Linken liegt beim Verfassungshof und dürfte anfangs Mai beantwortet werden. Die Chancen einer Genehmigung werden allerdings als gering eingestuft.

Seit Wochen wird in Frankreich gegen die Pensionsreform protestiert.
DER STANDARD

Die Gewerkschaften rufen den 1. Mai zu einem neuen Großkampftag aus. Von einer hunderttägigen Waffenruhe im politischen Sinn halten sie nichts. Auf Initiative der NGO Attac machten Macron-Gegner in Paris und anderen Orten am Montagabend mit Pfannen stundenlang Lärm, um gegen die Erhöhung des Rentenalters zu protestieren.

Und vielleicht auch, um gegen die Anzeichen einer gewissen Ermüdung im Lager der Reformgegner anzukämpfen. Mit dem Entscheid des Verfassungsrates von Freitag zugunsten der Pensionsreform hat Macron die Partie womöglich gewonnen; sicher ist das aber nicht. Die Frustration über die Ohnmacht der breiten Widerstandsbewegung ist so groß, dass eine unvorhergesehene Eskalation der Lage nicht auszuschließen ist. (Stefan Brändle aus Paris, 17.4.2023)