"Ich habe meine Puppenklinik in der Heumühlgasse im 4. Wiener Gemeindebezirk mit 30 Jahren aufgesperrt, seitdem sind 29 Jahre vergangen. Davor war in dem Geschäftslokal ein Herrenschneider ansässig. Die Einrichtung behielt ich, mir gefällt das antike Flair. Früher wurde die Ware in Spielzeuggeschäften in großen Vitrinen präsentiert. Überall stand Zeug herum. Diese Atmosphäre wollte ich einfangen und kein steriles Umfeld schaffen, so wie es heute oft üblich ist.

Bei mir sitzen die Puppen und Teddybären deshalb dichtgedrängt in schweren Holzschränken hinter großen Glasscheiben. Manches Spielzeug hat über hundert Jahre auf dem Buckel. Auch in den anderen Kästen wachsen die Puppenstapel, bei mir gibt es an jedem Fleck etwas zu entdecken. Um meine Patienten zu versorgen, sind meine Schubladen voller Ersatzteile. In einem der Fächer liegen nur Augen, in einem anderen Arme oder Beine.

Martin Reichel betreibt seit fast drei Jahrzehnten die Puppenklinik in Wien-Wieden.
Foto: Elena Sterlini

Die Leute, die hereinkommen, sagen: Das ist wie eine Zeitreise oder wie ein Ausflug in die eigene Kindheit. In meiner Wohnung geht es damit weiter. Meine private Sammlung zu Hause besteht aus ungefähr 150 Porzellanpuppen und 400 Barbies. Wegen der Barbies durfte ich mir schon bissige Kommentare anhören. Was will ein Mann mit dem Plastikzeug?, zum Beispiel. Einige alte Barbies sind mittlerweile begehrte und teure Sammlerstücke. Zu meinem 50. Geburtstag habe ich mir selbst die Barbie Nr. 1 um 4.500 Euro geleistet. Als Sammler musste ich einfach zuschlagen. Außerdem erinnert mich die bekannte Spielfigur an meine eigenen Kindertage. Ob Sie einem Sammler sagen dürfen, dass Sie seine Puppe hässlich finden? Nein, das kommt einer persönlichen Beleidigung gleich. Das empfehle ich nicht, auch wenn Sie richtig liegen sollten.

Keine Puppen für Buben

Die Darstellung des Menschen im Kleinformat faszinierte mich schon immer. Als Kind habe ich mir mehrmals eine Puppe gewünscht, aber stattdessen Teddybären bekommen. In meiner Generation wurde es nicht gern gesehen, wenn ein Bub mit Puppen spielt. Wer weiß, vielleicht hätte ich sie nur aus- und wieder angezogen und danach in eine Ecke gestellt. Aber so ist das bei Kindern, wenn sie etwas nicht haben dürfen, wollen sie es umso mehr. Mit ungefähr 17 Jahren kaufte ich mir dafür mein erstes Sammlerstück. Diese Puppe besteht aus einem Gliederkörper und einem Kopf aus Zelluloid, das ist ein früher Kunststoff. Ich besitze sie noch immer.

In der Puppenklinik repariert Manfred Reichel alte Puppen und Teddybären. Einige seiner Patientinnen sind über hundert Jahre alt.

Wirklich begehrt bei Sammlern sind alte Puppen aus Frankreich, vor allem in der Ausführung mit verschlossenen Lippen vom französischen Unternehmen Jumeau. Die Hersteller erkannten nämlich schnell, dass Kinder das Spielzeug füttern wollten, und produzierten es bald mit geöffnetem Mund. Hierzulande findet man diese Raritäten aber kaum – in fast 30 Jahren sind mir vielleicht zehn Stück untergekommen.

Kurz nach der Eröffnung meines Geschäfts besuchte mich eine Dame mit einem seltenen Modell. Die Jumeau-Puppe ähnelte der Kaiserin Elisabeth mit ihrer schlanken Silhouette, den langen Haaren und ihrem blauen Samtmantel. Der Hund der Frau hatte damals eines der Lederbeine zerbissen. Ich wollte ihr die Puppe sofort abkaufen. Weil sie ihrer Großmutter gehörte, lehnte sie ab. Rund 20 Jahre später kam die Dame wieder vorbei. Ihr beiden Söhne interessierten sich nicht für das Sammlerstück, mittlerweile zierte auch ein Sprung den Puppenkopf. Gekauft habe ich sie trotzdem. Daran kann ich mich erinnern, als wäre es gestern gewesen. Mir gefällt es, persönliche Geschichten zu meiner Sammlung erzählen zu können. Das ist mitunter ein Grund, warum ich alte Gegenstände so mag.

Zwischen Nostalgie und neuem Zeitgeist

Ich würde mich generell als Nostalgiker bezeichnen. Vor der Puppenklinik arbeitete ich als Schaufensterdekorateur beim Möbelhaus Michelfeit in Favoriten, der Konzern ist vor über zwei Jahrzehnten pleitegegangen. Die Massenware gefiel mir schon damals nicht. Mein Einkaufsfeld bleibt der Flohmarkt. Früher wohnte ich in Baden. Da dachte ich immer: Wenn ich mal in Wien lebe, werde ich schon um 5 Uhr am Flohmarkt beim Naschmarkt stehen. Ich muss zugeben, in 30 Jahren habe ich es kein einziges Mal so früh geschafft. Aber was soll’s, genügend Jugendstilmöbel für meine Wohnung ergatterte ich trotzdem. Auch am Sperrmüll fand ich einmal eine Clubgarnitur. Die ließ ich damals für 50.000 Schilling vom Tapezierer mit Leder beziehen. Unter Berücksichtigung der aktuellen Inflation sind das heute umgerechnet circa 3.630 Euro. Auf jeden Fall war das anständige Arbeit. Wenn du so viel Geld für eine Renovierung ausgibst, dann hast du so ein Teil auch bis zum letzten Tag deines Lebens.

Auch Teddys landen in der Puppenklinik.

Hier in der Gegend wimmelte es zur Zeit meiner Eröffnung übrigens vor Antiquitätengeschäften, es herrschte ein richtiger Boom. Gleich um die Ecke auf der Schönbrunner Straße gab es bestimmt 30 bis 50 Altwarenhändler, die alle zusperren mussten. Die jungen Leute interessieren sich aber wieder für Vintage, angesagt sind allerdings die 50er- bis 70er-Jahre. In meiner Generation drehte sich alles noch um Biedermeier und die Jahrhundertwende.

Heute ist alles schnelllebiger, die Menschen schmeißen viel weg. Oft kostet es mehr, eine Puppe bei mir reparieren zu lassen, als eine neue zu kaufen. Die Leute kommen trotzdem in meine Klinik, der persönliche Wert lässt sich nicht in Geld messen. Die mitgebrachten Puppen oder Teddybären stammen häufig aus den eigenen Kindertagen oder sogar von den Großeltern. Ich denke, dass besonders die Nachkriegsgeneration an ihrem Spielzeug hängt, weil sie in der Kindheit mit großen Entbehrungen leben musste.

Ob früher alles besser war? Aktuell herrscht zwar mehr Überfluss, was zu mehr Verschwendung führt, aber ich sehe auch gute Veränderungen. Ich fühlte mich schon immer als Freigeist. In meiner Generation hieß es noch: Die Kleinen müssen artig sein, sie sollen nichts angreifen, folgen und ruhig sitzen. Ich finde es toll, dass Kinder mittlerweile frei reden dürfen und ihren eigenen Willen haben. Ich war mich mit 20 Jahren gehemmter als viele Fünfjährige heute. Die stecken dich in den Sack, und das finde ich super." (Elena Sterlini, 30.4.2023)