Die letzte Generation Zagreber Bürgerinnen räumt die Waschmaschine aus: Andrea Wenzl (li.) und Nina Siewert beim schwesterlichen Palaver im Burgtheater.

Foto: Matthias Horn

Die Türe der verblassten Zagreber Großbürgerwohnung ist ausgehängt, ebenso ein Fensterflügel. Von draußen hallt der Lärm einer Marschkolonne herein, kurz darauf das Kommando einer Exekution. Von nun an bildet das Zimmer ein Sammelbecken, einen Zufluchtsort für leibhaftige Gespenster – allerhand Menschen von geringer personaler Dichte.

Man schreibt das Jahr 1945, die Tito-Partisanen haben sich der Regierung bemächtigt, sie verteilen Wohnungen an die Parteigänger wie Prämien. Jeder Nachkrieg, so dröhnt es im Burgtheater schicksalsschwer, enthält tausenderlei Gründe: für den nachfolgenden Konflikt.

Das Familiendrama Drei Winter der in Schottland lebenden Kroatin Tena Štivičićs gleicht einem Palimpsest. Vor ausgebleichten Mauerblumen versammeln sich die immer selben Figuren (Bühne: Annette Murschetz). Als Angehörige dreier Generationen lecken sie Wunden, die sich nicht schließen. Sie beziehen 1945 die Herrschaftswohnungen der Nazi-Kollaborateure. Sie waten knöcheltief durch zerbrochenes Porzellan. Sie staunen Bauklötze über den Zerfall Jugoslawiens – er findet 1990, vor ihren Augen, in Echtzeit auf dem Fernsehschirm statt.

Sie kehren 2011, am Vorabend des Beitritts zur EU, wieder. Die Jüngste des Kralj-/Kos-Clans (Andrea Wenzl) will Hochzeit halten, natürlich mit einem skrupellosen Geschäftsmann.

Knirschendes Fundament

Über alle diese Bleichgesichter aber knallt der Beamer flackernde Schwarzweiß-Bilder des Krieges. Die Panzer von einst verschmelzen mit Tanks des Ukraine-Gemetzels zu einer einzigen Drohkulisse. Die Ruinen von gestern, so suggeriert es dieser Palimpsest, bilden ein knirschendes Fundament. Von ihm aus hüpfen die Angehörigen Nachkriegseuropas in die nächste Katastrophe, wie von einem Fettnapf in den nächsten. Am Horizont taucht der jugoslawische Bürgerkrieg auf, die Balkankatastrophe, die auch in das Stück hinein wetterleuchtet.

Politisch trennscharf wird man Martin Kušejs ebenso langatmige wie entsetzlich schwerfällige Inszenierung darum nicht nennen wollen. Als würde ein Fotoalbum umgeblättert, setzt sich die Drehbühne gemächlich in Gang. Von den geflohenen Herrschaften ist 1945 einzig die verwirrte Tochter des Hauses übrig (Barbara Petritsch): Sie bewegt sich mit schlohweißem Haar im Kreis, gleich einem Zeiger auf dem Zifferblatt. Sie wird, eine Art Engel der Geschichte, auch die kommenden Generationen begleiten, die Töchter und Enkelinnen ihrer Quartiergeber versorgen und das schlechte Gewissen aller Beteiligten wachhalten.

An ihrer statt genießt nun die Tochter der einstigen Magd (die wunderbar deklamierende Sylvie Rohrer) die Freuden des Immobilienbesitzes: Ruža (Nina Siewert), die Partisanin mit den erfrorenen Füßen. Das Stück wechselt unaufhörlich die Zeitebenen, spult vor und zurück, doch die Arbeit der analytischen Aufdeckung fördert kaum mehr als ein paar Skandälchen zutage. Zu verzeichnen sind ein paar lässliche Seitensprünge und – mit Blick auf Titos Jugoslawien – ein gewiss zulässiges Maß an Opportunismus und Maulheldentum.

Kroatische Wohnküche

So muss die kroatische Wohnküche für den bürgerlichen Salon ersatzweise einstehen, als Sammelbecken für mental Gestrandete, die, eingeknickt unter der Last zerbrochener Ehen, im viel zu engen Scharlachkostüm über die Fauteuils turnen (Zeynep Buyrac). Die, als geschasste Lehrer, tief ins Sektglas gucken oder, aus Anlass der Verheiratung ihrer Jüngsten, ihre Lieben mit moralischen Sonntagsreden bis ins Herz hinein anöden (Norman Hacker).

An Vlados (Hackers) Seite gibt Regina Fritsch eine ihrer patentierten Dulderinnen. Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die dann doch nur routiniert zur Salzsäule erstarrt. In der Familienaufstellung von 1945 ist der Keim gelegt zu den Versammlungen von 1990 und 2011. Aus Titos Parteigängern werden Musterbürger, die die Feuersbrunst auch dann nicht erkennen, wenn es vor ihrer Haustür brennt.

Die Enkelgeneration besteht aus Entwurzelten, halb Migrierten (Nina Siewert in einer Doppelrolle) oder ganz Angepassten (Wenzl als Braut). Man fühlt sich nach Genuss dieser zähen Produktion wie nach der Lektüre eines ziegelschweren Trivialromans: Kaum einmal blitzt dialogischer Witz auf. Eher schon dräut saurer Kitsch, wenn die Kriegsfurie in expressionistischer Manier beschworen wird. Eine einsame Meisterleistung vergegenwärtigten Schreckens bildet ein Solo Branko Samarovskis, der als hinkender Veteran der kroatischen Heimatarmee die Erinnerung an sein Pferd beschwört.

Der Zugewinn durch Inszenierungskunst erweist sich am ehesten beim Wechsel des Belags. Neben zentimeterdickem Porzellanbruch müssen die Figuren Dünen aus Granulat überwinden, oder sie stapfen über abgeerntete Felder. In Zagrebs Bürgerstuben gedeihen eben Kraut und Rüben. Das Premierenpublikum wollte damit größtenteils vorliebnehmen und klatschte herzlich Beifall. (Ronald Pohl, 23.4.2023)