Die kinderärztliche Versorgung auf Kasse weist Lücken auf, während das Wahlarztsystem einen Boom erlebt. DER STANDARD hat zwei Ärztinnen der Kinder- und Jugendheilkunde in Wien – eine auf Kasse, eine Wahlärztin – gefragt, wie sie ihren Alltag erleben:

Die Kassenärztin

Nicole Grois, Kassenärztin der Kinder- und Jugendheilkunde in Wien-Alsergrund, Vorstandsmitglied im Verein Politische Kindermedizin.
Foto: Corn

"Wir haben eine knallharte Zweiklassenmedizin. Es gibt nur mehr 40 Prozent Kassenkinderärzte, und immer mehr Kassentherapeutinnen legen ihre Verträge zurück. Aber der Bedarf von Kindern aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen steigt enorm. Das Problem fängt schon damit an, dass es viel zu wenige Kindergartenplätze gibt. Dadurch sind viele Kinder mit entwurzelten, depressiven, vor allem migrantischen Müttern zu Hause und konsumieren den ganzen Tag digitale Medien und sind total entwicklungsgeschädigt. Das kann nicht mehr aufgeholt werden. Mit einem Smartphone öffnet man seinem Kind die Tür zu Gewaltvideos und Pornografie. Wenige Eltern wissen mit digitalen Medien gut umzugehen. Es gibt Zehnjährige, die "digitale Zombies" sind und sich nicht mehr bewegen können. Es wird kaum mehr gekocht, und die Kinder bekommen ungesunde Fertigprodukte und literweise zuckerhaltige Getränke, haben kaum Zähne im Mund und werden immer dicker. Das trifft vor allem die ärmeren Kinder.

Fordern seit 15 Jahren einen Ausbau

Ich habe circa 50 bis 60 Patientinnen und Patienten am Tag, manche Kassenkollegin hat bis zu 100. Das sind doppelt so viele und doppelt so anspruchsvolle Patienten wie in Wahlarztpraxen. Aber es ist doppelt schwierig, für sie Lösungen zu finden, weil es kaum Angebote für spezielle Therapien auf Kasse gibt. Für Autisten gibt es in Wien fast gar nichts. Ich habe jetzt im Rahmen des Projekts Social Prescribing eine Sozialarbeiterin bei mir, die mich unterstützt, weil ich es sonst nicht mehr schaffe. Seit 15 Jahren sagen wir von der Politischen Kindermedizin allen Verantwortlichen: Wir brauchen einen Ausbau, aber die Politik ist nur mit sich selbst beschäftigt.

Verdienen es uns hart

Manchmal kann man im Kleinen "retten". Einmal kam eine junge ägyptische Mutter mit ihrem zweijährigen Sohn, der hat nur geschrien und wurde vors Handyvideo gesetzt. Die Mutter war fix und fertig, das Kind entwicklungsgestört. Wir haben totale Medienkarenz vereinbart, frühe Hilfen und eine Beratung organisiert. Jetzt ist der Bub in der Volksschule und schreibt lauter Einser. Wir bräuchten ein System, das Fälle wie diese automatisch abholt. Wir Kassenkinderärztinnen verdienen nicht schlecht, aber wir verdienen es uns hart. Wenn es nach mir ginge, müsste man in der Kinderheilkunde morgen mit dem Wahlarztsystem aufhören und das Geld ins öffentliche Gesundheitssystem stecken. Es braucht ein öffentliches Gesundheitswesen für alle Kinder." (Protokoll: Gudrun Springer, 25.4.2023)

Die Wahlärztin

Monika Resch, Wahlärztin für Kinder- und Jugendheilkunde und Mitbegründerin der Kinderarztpraxis Schumanngasse.
Foto: Georg Spandl

"Wir sind in der Kinderarztpraxis Schumanngasse insgesamt 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon allein 17 Kinderärztinnen und Kinderärzte, dazu kommen auch Fachärzte wie zum Beispiel Kinderchirurgen sowie Therapeutinnen verschiedener Fachrichtungen. Wir haben Montag bis Sonntag geöffnet, auch an Feiertagen. Jeder Kinderarzt hat seine Stammpatienten, aber wir haben auch Zeiten für Akutfälle reserviert, und da kann es vorkommen, dass man auch einmal zu einem anderen Arzt kommt. Ein Ersttermin beim Kinderarzt wird mit einer Stunde veranschlagt und kostet 200 Euro. Eine Folge-Ordination mit 30 Minuten wird mit 150 Euro berechnet. Außerdem ist es Teil des Service, dass wir bei Fragen per Mail oder am Handy erreichbar sind.

Maximal zehn Minuten warten

Oft ist die Wartezeit, die man bei einer Kassenordination vor Ort hat, ein Argument, warum sich Familien für unsere Wahlarztordination entscheiden. Die maximale Wartezeit bei uns beträgt zehn Minuten. Ich habe nie überlegt, ob ich einen Kassenvertrag will, weil ich mir einfach für meine Patienten die Zeit nehmen will. Es gibt ausgezeichnete Kinderärztinnen und Kinderärzte auf Kasse, ich habe großen Respekt davor, wie sie es schaffen, innerhalb der kurzen Zeit, die sie mit den Familien haben, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Sehr viele haben Zusatzversicherung

Es ist inzwischen sehr schwierig, bei Kinderärzten unterzukommen. Wir haben im Moment selbst einen Aufnahmestopp, weil unsere Akutzeiten für den Tag derzeit sehr rasch voll sind. Sehr, sehr viele Familien haben eine Zusatzversicherung. Auch Leute, die nicht viel Geld haben, leisten sie sich heutzutage oft für ihr Kind. Zur Diskussion darüber, ob Wahlärzte abzuschaffen sind, kann ich nur sagen: Dann sollte man Kassenärzte ordentlich honorieren, damit man Zeit hat und die Kinder nicht durchschleusen muss. Jedenfalls sollte man sich jede etwaige Änderung des Systems gut überlegen, denn es gibt jetzt schon einen Kinderärztemangel, und wir nehmen den öffentlichen Häusern sehr, sehr viel ab.

Ein privates Primärversorgungszentrum war unsere Gründungsidee vor acht Jahren, inzwischen sprießen solche Zentren wie die Schwammerl aus dem Boden. Das ist nämlich genau das, was gebraucht wurde." (Protokoll: Gudrun Springer, 25.4.2023)