Die Menge an Plastikabfällen in der EU steigt rasant. In Österreich werden bislang nur knapp 30 Prozent recycelt.

Foto: Investigate Europe / Nico Schmidt

Kleine Plastikfetzen kleben an seinen Schuhen. Kenneth Bruvik stapft durch den Sand entlang der norwegischen Westküste. Es ist ein kalter Aprilmorgen, Bruvik erinnert sich an das erste Mal, als er an den kleinen Strand außerhalb von Bergens kam, um Kunststoff zu sammeln. "Ich habe geweint", sagt er. Plastikflaschen und Tragetaschen lagen überall am Strand verteilt und zwischen Felsspalten gesammelt. Das Wasser zerreibt sie so lange, bis nur noch die Fetzen bleiben.

In Norwegen selbst funktioniert das Plastiksammelsystem gut. Bruvik hilft das allerdings wenig, wenn in anderen Staaten weiterhin so viel Abfall statt im Mülleimer in Flüssen oder im Meer landet. An dem norwegischen Strand wird Plastik von weither angespült, aus Portugal, Spanien, Großbritannien sogar aus Nordamerika. Während Bruvik auf einen kleinen Berg Plastikflaschen starrt, fordert er: "Hört auf damit!"

Kenneth Bruvik beim Plastiksammeln nahe der norwegischen Stadt Bergen.
Foto: Investigate Europe / Amund Trevellig

Ein paar Tausend Kilometer südöstlich in einer Abfallverwertungsanlage nahe Athen öffnen wenige Tage später griechische Arbeiter einer Abfallverwertungsanlage Container, die mit Müll aus Deutschland gefüllt sind. Ein deutscher Zwischenhändler wollte den Abfall zu einem Recyclingunternehmen in die Türkei schicken. Doch das hatte seine Lizenz verloren. Die Behörden des Lands ließen den Müll nach Vietnam weiterleiten. Der griechische Zoll stoppte die Lieferung.

Die Plastikballen wirken kaum auffällig. Doch Proben ergaben, dass der Abfall in den 37 Containern zu sehr verschmutzt sei. "Dieser Müll kann überhaupt nicht recycelt werden", sagt der Chef jener Männer, die nun die Container ausräumen, Yannis Polychronopoulos. Eigentlich hätte Deutschland den Müll zurücknehmen müssen, doch es weigerte sich. Das Plastik wird nun in Zementfabriken verbrannt. Dadurch landet es nicht im Meer – doch die Zementfabriken haben im Gegensatz zu Müllverbrennungsanlagen kaum Rauchgasreinigungen.

Von Norwegen bis Griechenland, von Portugal bis Polen: Europa hat ein massives Plastikproblem. Monat für Monat hinterlässt jede Europäerin und jeder Europäer durchschnittlich drei Kilogramm Kunststoffmüll. Im Jahr 2060 könnte sich diese Menge gar verdreifachen, prognostiziert die OECD. Derzeit werden in der EU nur rund 40 Prozent davon recycelt. Der Rest wird entweder verbrannt oder landet im Wasser sowie in den Böden. Mikroplastik, entweder aus größeren Stücken zerkleinert oder bereits so etwa für Kosmetik hergestellt, ist mittlerweile fast überall zu finden: im Meer, auf Bergen, im arktischen Eis, im Trinkwasser.

Rechnungshof kritisiert: Konsumenten zahlen doppelt

In Österreich liegt die Recyclingquote von Kunststoff mit rund 30 Prozent sogar unter dem EU-Schnitt. Gut funktioniert die Widerverwertung von PET-Flaschen und Waschmittelverpackungen, bei sonstigem Kunststoff hapert es. Das hat auch der Rechnungshof kürzlich gerügt. Bis 2025 muss laut der EU-Vorgabe der Anteil der stofflich verwerteten Kunststoffverpackungen auf 50 Prozent steigen – davon, so kritisiert der Bericht, ist Österreich weit entfernt.

"Das System ist sehr intransparent. Der Wettbewerb in der Entsorgung von Kunststoffabfällen und dem Recycling wird in Österreich kaum kontrolliert", fasst Christian Abl, Direktor für den Recyclingbereich beim Sammel- und Verwertungsunternehmen Reclay, den Rechnungshofbericht zusammen. Außerdem, kritisiert Abl weiter, würden die Konsumentinnen und Konsumenten zweimal zur Kasse gebeten: einmal beim Kauf eines verpackten Produkts und ein zweites Mal bei der Müllentsorgung. "Die Kosten im österreichischen Recyclingsystem sind sehr kompliziert verteilt."

Insbesondere gelte das für Unternehmen, die Kunststoffverpackungen in den Verkehr setzen, so der Rechnungshof. Diese entsorgen das Plastik nicht selbst, doch lizenzieren sie es auch häufig nicht bei Sammel- und Verwertungssystemen. Das heißt: Sie verursachen Abfall, aber reichen die Kosten an die Kunden weiter, die aber bereits an anderer Stelle für die Abfallentsorgung zahlen. "Das Problem ist nicht die Verpackung an sich, österreichische Betriebe stellen sehr gutes Material her. Aber es muss nach der Nutzung dorthin gelangen, wo es hingehört: ins Recycling", erklärt Abl.

Erste Schritte: Pfand für Einwegflaschen und neue gelbe Tonne

Die schlechte Bilanz, die der Rechnungshof zieht, so Abl weiter, sei das Ergebnis einer Politik der vergangenen zwei Jahrzehnte, die nicht auf eine hohe Recyclingquote ausgelegt war. Die Prüfer empfehlen unter anderem: Die Entsorgung von Verpackungsabfällen müsse vereinfacht werden, ebenso wie die Kontrollen. Außerdem brauche es bessere Anreize für den Einsatz von recyclingfähigen Verpackungen.

Im Umweltministerium, das für die Abfälle zuständig ist, schien der Rechnungshofbericht auf Erleichterung zu stoßen: Einige der Empfehlungen wurden bereits umgesetzt, zum Beispiel die Vereinfachung der Entsorgung in der gelben Tonne seit Jahresbeginn sowie das neue Pfandsystem für Einwegflaschen.

Doch der Weg ist weit, und die Nachfrage nach neuem Plastik steigt. Neben der Verschmutzung treibt das auch die Erderhitzung an – denn Kunststoff wird aus Erdöl hergestellt. Laut der OECD verursacht die Kunststoffindustrie insgesamt rund 3,4 Prozent der globalen Emissionen, Tendenz steigend.

Für die Meere ist die Erhitzung folgenschwerer als die besser sichtbare Verschmutzung mit Plastik. Sowohl die steigenden Temperaturen als auch die Versauerung der Ozeane, die durch höhere CO2-Level im Wasser entsteht, verändern die Bedingungen unter Wasser drastisch.

Die Widerverwertung von Plastik in einer Kreislaufwirtschaft ist ein Hebel, um den Beitrag der Industrie zu dem Problem verringern. Im Dezember 2015 präsentierte der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, den Aktionsplan Kreislaufwirtschaft der EU. Das Paket enthalte konkrete Schritte um "den Kreis zu schließen", so Timmermans. Zu den mehr als 50 Aktionspunkten gehörten vage Postulate wie "Halte die Meere sauber". Doch im Kreis bewegten sich in den folgenden Jahren vor allem die Lobeshymnen, welche die Kommission auf sich selbst sang und auf die Initiativen, die sie vorstellte. 2018 präsentierte Timmermans die Circular Plastics Alliance und rühmte: "Europa führt."

Illegale Plastiktransporte durch ganz Europa

Heute, fünf Jahre später, bewegt sich europäisches Plastik statt im Kreis noch immer auf einer Linie. Zwischen 2010 und 2020 verdoppelte sich der Anteil des vorsortierten Plastiks, der statt zu Neuplastik zu Brenngut wurde, auf 23,2 Prozent. Seit einem chinesischen Importstopp für Plastikmüll im Jahr 2018 stieg der Anteil des Kunststoffs, der in der EU für die Energieerzeugung verbrannt wird, weiter leicht an.

Noch größer ist das Problem, wenn das Plastik auf illegalen Mülldeponien landet. Zwar gibt es Lücken in den Daten, doch laut dem Statistischen Amt der EU, Eurostat, wurden allein im Jahr 2021 bis zu 2,5 Millionen Tonnen an Kunststoffabfällen – die als Ware gehandelt werden – durch die EU transportiert. Besonders häufig landet das Plastik in Polen, Rumänien, Bulgarien und Kroatien. Ein Grund: Häufig ist es für Unternehmen günstiger, die Entsorgung in diesen Ländern zu buchen statt im Inland.

Behörden in Österreich legen daher einen Kontrollschwerpunkt auf Kunststoffabfälle. Illegale Transporte von Kunststoff aus Österreich wurden laut dem Klimaschutzministerium in den vergangenen Jahren mehrere festgestellt, etwa nach Malaysia, in die Türkei, nach Bosnien und Herzegowina, nach Serbien, Tschechien und auch nach Deutschland. Einige Verfahren aus den vergangenen beiden Jahren laufen derzeit.

Abfallsortierung stößt an ihre Grenzen

Soll all das gelöst werden, braucht es mehr Recycling, doch schon die Möglichkeiten der Abfallsortierung sind begrenzt. Davon erzählt Michael Stechert. Er leitet ein Recyclingwerk am südlichen Rand des Naturparks Westhavelland westlich von Berlin. Ende März deutet er auf einen mannshohen Ballen vor der Sortierhalle. Darin verpresst sind Scampi-Dosen, Schweppes-Flaschen und Bonbon-Papier.

Michael Stechert führt durch sein Recyclingwerk in der Nähe von Berlin.
Foto: Investigate Europe / Nico Schmidt

Stecherts Unternehmen importiert den Müll aus Frankreich, den Niederlanden oder, wie der Ballen, vor dem er gerade steht, aus Norwegen. Von dem Plastik können seine Maschinen nur ein knapp Drittel zweifelsfrei sortieren und danach recyceln. Die Anlage sortiert die restlichen zwei Drittel aus. Weil es sogenannte Fehlwürfe sind, also gar kein Plastik ist oder Plastik, das nicht recycelt werden kann.

Seit Jahren nimmt die Menge der sogenannten Multilayer-Verpackungen zu. Bei diesen Produkten, zum Beispiel Ketchup-Flaschen oder Käseschalen, sind mehrere Plastikschichten miteinander verklebt. Die haben unterschiedliche Schmelzpunkte. Stecherts Maschinen können sie nur schwer bis kaum recyceln. "Wir arbeiten innerhalb der Grenzen, die uns die Physik vorgibt", sagt er. "Unser Ziel ist es, den Anteil der Gemische so gering zu halten wie möglich."

Neues Verfahren verspricht Revolution

So entsteht eine riesige Lücke im Plastikkreislauf. Diese Lücke wollen andere schließen. Einer von ihnen ist Markus Klatte. Mit einer neuen Recyclingtechnologie will er den Markt revolutionieren. An einem sonnigen Aprilmittag blickt er vom Dach seiner Anlage hinab auf den Industriepark im Westen Frankfurts, in dem einst die Höchst AG die deutsche Plastikproduktion antrieb. Heute will Klatte mit seinem Unternehmen auch deren Erbe bewältigen: die Unmengen Plastik, die in Verbrennungsanlagen verfeuert werden.

Klattes Firma, Arcus Greencycling, betreibt seit wenigen Monaten eine der ersten Pyrolyse-Anlagen in Deutschland im Industriemaßstab. Bei dem chemischen Recyclingverfahren wandelt die Anlage Altplastik in Öl um. Das könne anschließend von Chemiekonzernen genutzt werden, um neues Plastik herzustellen. "Wir können da helfen, wo das klassische Recycling nicht weiterkommt", sagt Klatte, während er an Beuteln mit verschmutztem Plastik vorbeigeht. Die Anlagen herkömmlicher Recyclingbetriebe würden daran scheitern, das zu verwerten. "Die Recyclingquoten in Europa sind schlecht", sagt Klatte. "Wir wollen dabei helfen. Wir brauchen das chemische Recycling."

Umstrittene Methode

Darauf setzt auch die Großindustrie. Zwar läuft Klattes Anlage momentan noch im Probebetrieb. Doch BASF hat mit ihm bereits einen Vertrag geschlossen mit der Option, ihm bis zu 100.000 Liter Pyrolyse-Öl abzunehmen. "Wir können den Kreis schließen", warb der Chemiebranchenverband bereits im Jahr 2019 während eines Treffens mit der EU-Kommission. Das zeigen Unterlagen, die dem Journalistenteam Investigate Europe vorliegen. Während eines weiteren Treffens wirbt der Verband mit massiven Investitionen. Bis 2030 sollen 7,2 Milliarden Euro in neue Anlagen fließen. Die sollen ein Drittel des Plastiks in Europa recyceln.

Doch das Verfahren ist umstritten. Julia Vogel, die für das deutsche Umweltbundesamt (UBA) an chemischem Recycling arbeitet, ist skeptisch. "Es gibt noch viele unbeantwortete Fragen", sagt sie. "Eine Konkurrenz zu bestehenden Recyclingtechnologien sollte vermieden werden." Denn für sie ist längst nicht erwiesen, dass Pyrolyse-Anlagen tatsächlich stark verschmutztes Plastik verarbeiten können.

Das UBA startete deshalb im Jahr 2020 ein Forschungsprojekt hinsichtlich der neuen Technologie. Das soll 2024 abgeschlossen sein. In einem ersten Bericht heißt es: "Aufgrund der prekären Datenlage ist eine Bewertung der Verfahren des chemischen Recyclings aktuell aber noch schwierig."

Bei der Produktion ansetzen

Mangelhafte Recyclingquoten und zweifelhafte Verfahren beschäftigten Helmut Maurer viele Jahre von Dienstbeginn bis Dienstende und häufig darüber hinaus. In der EU-Kommission arbeitete er fast zwei Jahrzehnte lang in zuständigen Abteilungen. Im vergangenen Juli ging er in den Ruhestand. Doch das Thema blieb.

"Der Green Deal verspricht, dass die europäische Wirtschaft immer weiterwachsen und die Menschen weiter konsumieren können – nur nachhaltig", sagt Maurer im Gespräch mit Investigate Europe. "Aber es gibt kein System mit endlosem Wachstum." Die EU halte an unrealistischen Recyclingzielen fest. Damit blockiere sie die Müllvermeidung. Zu oft setze sie am Anfang des Kreises an, sagt Maurer. Vielmehr müssten die Verpackungspreise wiedergeben, welche Folge der Plastikrausch für das Klima und die Umwelt habe. Nur so könne man sicherstellen, dass in der EU so wenig Plastik wie möglich produziert werde.

Das könnte der Beginn eines Weges hin zu einer Kreislaufwirtschaft sein. Eine, in der weniger Plastik produziert wird, weniger Plastik auf dem Hof des Havelländer Recyclingunternehmens landet oder verbrannt werden muss. Dann müssten griechische Hafenarbeiter keine illegalen Ladungen aus Deutschland mehr entsorgen, und Kenneth Bruvik könnte entlang an der norwegischen Küste ohne Plastikmüll an seinen Füßen spazieren. (Nico Schmidt, Wojciech Cieśla und Alicia Prager, 27.4.2023)