Inmitten der Gewaltspirale, in die Militär und Milizen den Sudan mit ihren Gefechten gezogen haben, konnte der STANDARD vergangene Woche Ihsan Fagiri telefonisch erreichen. Die 68-jährige Ärztin setzt sich als bekanntes Mitglied der sudanesischen Zivilgesellschaft für eine friedliche Zukunft ihres Landes ein und wurde dafür 2019 mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar ausgezeichnet. Von einer Feuerpause spüre sie nichts, sagt sie, die Spitäler in Khartum seien entweder unzugänglich oder von Kämpfern besetzt. Und von der internationalen Staatengemeinschaft fühlt sie sich im Stich gelassen.

STANDARD: Wie sieht es in Khartum aus? Ist der Waffenstillstand noch in Kraft?

Fagiri: Nicht die Spur. Über unser Haus fliegen Düsenjäger der Luftwaffe. Ich weiß nicht, was andere behaupten, aber seit dem Ausbruch der Kämpfe vor zwei Wochen habe ich keinen Waffenstillstand erlebt.

STANDARD: Wo befinden Sie sich gerade?

Fagiri: Ich bin mit meinem behinderten Sohn bei Verwandten in Omdurman (die auf der westlichen Nil-Seite gelegene Zwillingsstadt Khartums, Anm.) untergekommen. In meinem Haus in Nord-Khartum konnten wir nicht bleiben. Dort gab es weder Wasser noch Strom, wir konnten das Haus nicht einmal zum Einkaufen verlassen.

Ein beschädigtes Wohngebäude in Nord-Khartum – von dort ist Ihsan Fagiri nach Omdurman geflüchtet.
Foto: REUTERS/ Mohamed Nureldin Abdallah

STANDARD: In Omdurman können Sie auf die Straße gehen?

Fagiri: Immer wieder mal. Dann kaufen wir schnell das Nötigste ein, vor allem Brot und Trinkwasser. Vor einer halben Stunde ist jetzt aber auch hier der Strom ausgefallen.

STANDARD: Anscheinend schießen die Lebensmittelpreise in die Höhe.

Fagiri: Manche Ladenbesitzer versuchen tatsächlich, aus dem Elend noch Gewinn zu schlagen. Aber die meisten sind anständig und halten die Preise so niedrig wie möglich.

STANDARD: Können Sie selbst noch arbeiten?

Fagiri: Nein, das Labor, in dem ich Pathologin bin, ist geschlossen. Genau wie mittlerweile 30 Krankenhäuser in Khartum. Sie sind entweder unzugänglich oder wurden von einer der beiden Kriegsparteien in Beschlag genommen. Unser Gesundheitswesen bricht zusammen.

STANDARD: An wen können sich Kranke oder Verletzte jetzt wenden?

Fagiri: Entweder sie sterben – wie etwa Nierenkranke, die Dialyse brauchen. Oder sie finden Hilfe in ihrem Stadtteil. Dort gibt es Netzwerke wie die Widerstandskomitees, die einst die Revolution organisiert haben und sich jetzt, so gut es geht, um die Bevölkerung kümmern. Außerdem hat die Ärztevereinigung einen "Emergency Room" eingerichtet, dem ich angehöre.

STANDARD: Ist das eine Behandlungspraxis oder eher ein Vermittlungsbüro?

Fagiri: Es ist eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten, die Informationen über die Verfügbarkeit von Spezialisten und Medikamenten austauschen und sie dann Hilfesuchenden zur Verfügung stellen.

STANDARD: Bekommen Sie Hilfe aus dem Ausland, von der sogenannten internationalen Gemeinschaft?

Fagiri: Welche internationale Gemeinschaft? Sie haben alle ihre Leute hier herausgeholt und uns zurückgelassen. Sie kamen nicht einmal auf die Idee, die zur Evakuierung ihrer Staatsbürger entsandten Flugzeuge mit Medikamenten für uns zu füllen.

STANDARD: Die Bevölkerung fühlt sich als Menschen zweiter Klasse behandelt?

Fagiri: Genau. Wir sind doch auch menschliche Wesen! Wir brauchen den Frieden genauso dringend wie ihr Europäer. Und wenn hier das Chaos ausbricht, wundert ihr euch wieder über die Migrantenströme aus Afrika. Das ist heuchlerisch.

STANDARD: Zeichnet sich bei den Gefechten zwischen den Regierungstruppen und den Milizionären der Rapid Support Forces ein Sieger ab?

Ihsan Fagiri: "Wir müssen die Islamisten ausschalten."
Foto: AFP/CLARA WRIGHT

Fagiri: Nicht, dass ich wüsste. Wenn es nach mir ginge, würde keine der beiden Seiten gewinnen. Womöglich wird es auch nie einen Gewinner geben. Dafür stehen die Verlierer schon fest: Das sind wir, das Volk.

STANDARD: Wäre es aus Ihrer Sicht besser, wenn die Milizionäre oder die Soldaten gewinnen würden?

Fagiri: Das macht kaum einen Unterschied. Beide haben gemeinsam unsere Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und unsere Leute erschossen. Darin waren sie sich einig. Aber vielleicht sollte man doch eher den Regierungstruppen den Sieg wünschen. Die Milizionäre sind noch unberechenbarer.

STANDARD: Es heißt, hinter der Armee würden wie zu Omar al-Bashirs Zeiten die Islamisten stehen.

Fagiri: Das stimmt. Aber die Bevölkerung wird die Islamisten nie wieder akzeptieren. Sollten sie jetzt durch den Krieg wieder an die Schaltzentralen der Macht gelangen, werden wir sie mit einer neuen Revolution wieder entfernen.

STANDARD: Gibt es für Sie einen Silberstreifen am Horizont? Was muss passieren, dass die Kämpfe aufhören?

Fagiri: Das Militär muss sich aus der Politik zurückziehen, und die Milizionäre müssen in die Armee integriert werden. Aber zuvor müssen wir die Islamisten ausschalten. Dieser Krieg ist eine große Lehre für uns. (Johannes Dieterich, 1.5.2023)