Ein edler Moment gereifter Neoklassik bei Heinz Spoerlis "Goldberg-Variationen".
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Niemand will ausschließlich das ewig aufgewärmte neoklassische Ballett sehen", meinte kürzlich Staatsoperndirektor Bogdan Roščić. Gut, dass es diese Ausschließlichkeit beim Wiener Staatsballett nie gegeben hat. Und dass etwas "Aufgewärmtes" dem Publikum durchaus schmecken kann, hat die Premiere des zweiteiligen Abends Goldberg-Variationen im vollen Haus am Ring gezeigt.

Großen Applaus gab es für das Stück mit demselben Titel des Neoklassikers Heinz Spoerli (1993). Wenn nicht noch mehr Beifall gab es für Tabula rasa (1986) von Ohad Naharin, der weniger als Ballettchoreograf gilt, vielmehr seine eigene Bewegungssprache kultiviert hat.

Roščić hatte auch festgestellt fest, dass beim Staatsballett Modern Dance nicht stattfinde. Dieser unscharfe Begriff wird oft salopp als Synonym für "zeitgenössischen Tanz" verwendet. Naharin jedenfalls bewegt sich an der Schwelle zum postmodernen Tanz, so wie andere von Ballettleiter Martin Schläpfer ins Repertoire genommene Werke: die Große Fuge (1992) von Anne Teresa De Keersmaeker, Lucinda Childs’ Concerto (1993) und Merce Cunninghams Duets (1980).

Das sind keine Ballette, sondern moderne Tanzstücke im damaligen langen Übergang zur postmodernen Choreografie. Der zeitgenössische Tanz von heute ist tatsächlich – abgesehen vom Gegenwartsballett – nur in Ausnahmefällen mit den Tänzerinnen und Tänzern einer Compagnie wie dem Staatsballett vereinbar. Erstaunlich trotzdem, welche ästhetische Bandbreite dieses Ensemble bewältigt. Denn Naharins Tabula rasa kann bereits als das schiere Gegenteil zum klassischen Ballett gelten. Trotzdem wird die Wiener Interpretation beim aktuellen Ballettabend durchaus plausibel getanzt. Das ist wohl Matan Davids Kunst der richtigen Einstudierung zu verdanken.

Hinreißendes Solo

Von Naharin zu Spoerli ist es also ein großer Sprung. Die gereifte Neoklassik bei Spoerlis Goldberg-Variationen – William Youn am Klavier bekam verdiente Extra-Ovationen – zitiert in ihren beinahe schon genderfluiden Kostümen die von Cunningham besonders geliebten hautengen Leotards. Auch hier kann das Ensemble mit seinem Tanz überzeugen, besonders Olga Esina in einem wunderbaren Duett mit Brendan Saye und Masayu Kimoto, der ein hinreißendes Solo hinlegte.

Beide Stücke geben einen Eindruck von der beinahe utopischen Kraft, die das Ballett und (post)moderner Tanz in Analyse und Entwurf von Gemeinschaftskonstellationen freisetzen kann. Ohad Naharin mit seinen differenzierten Darstellungen körperlicher Kommunikation in Gruppen und Duetten von Figuren in Alltagskleidung und Heinz Spoerli in seinen stilisierten Figurenstrukturen, die der abstrakt-mathematischen Akkuratesse von Bachs Musik eine konkret menschliche Performance hinzufügen.

Absolute Gleichheit

Dabei wird die entscheidende Information transportiert, dass es "Perfektion" – als Idealzustand einer Gesellschaft oder als Gruppenhomogenität – nicht geben kann. Das ist schon aus den romantischen Balletten abzuleiten, in denen Visionen absoluter Gleichheit, etwa in den berühmten weißen Akten bei Schwanensee oder Giselle, an den tragischen Inhalten der Plots scheitern. Der moderne Tanz schaffte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die aristokratische Pracht ab, mit der das Ballett das Ambivalenzthema abgehandelt hatte. Er hat aber die Darstellung utopistischer Ambitionen immer wieder hervorgeholt.

Auch das ist an Tabula rasa und den Goldberg-Variationen abzulesen. So zeigt sich im ersten Stück, dass Gemeinschaft funktionieren kann, wenn alle sich bemühen. Im zweiten wird die Metaebene gefeiert, als treibende Idee des Zusammenkommens von Individuen, die hier anfangs nur als dunkle Umrisse erkennbar sind und es zum Schluss doch ins Licht schaffen. (Helmut Ploebst, 29.4.2023)