Träume und der Gegensatz zur Realität: "Über Nacht" im Burgtheater-Vestibül.

Marcella Ruiz Cruz

Lebe deine Träume, arbeite hart, dann schaffst du’s. Derlei kennt man schon von Margaret Thatchers Doktrin der Leistungsgesellschaft. Leere Versprechen, findet Samira. Das Privileg, sorglos von ihrer beruflichen Zukunft zu träumen, will sich die Klassenbeste in Lucien Haugs Stück Über Nacht trotz ihres Potenzials nicht leisten – und kann es auch gar nicht.

Das wiederum empört in Rachel Müllers Inszenierung im Burgtheater-Vestibül die zu Allegorien stilisierten Träume (Simon Schofeld, Coco Brell) von Samira (Mara Romei). So sehr, dass sie sie persönlich rügen. Denn Träume stünden nicht im Widerspruch zur Realität. Sie nehmen mithilfe der Fantasie (Phanti) und der Verwandlung (Morphi) alle Gestalten an und konfrontieren Samira mit ihren Ängsten. Vor einer von indigoblauem Licht durchfluteten Hintertür torkelt diese schlafwandelnd umher.

Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit

Aus einer zweiten Tür kullern Kopfkissen, in der Bühnenmitte befindet sich ein Schlafgemach mit einem Vorhang als Metapher für die verschwommene Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Bühnenboden ist ein Basketballfeld, auf dem Samira einen auf Snoop Dogg macht. Von ihrem Sextraum lässt sie sich zu einem Karaoke-Duett von Bernhard Eders Angst verleiten. Wenn sich die Träume in Zeitlupentempo in Samiras Wirklichkeit verirren oder das Klicken eines Fotoapparats ertönt, verflüchtigt sich alles: Statt der Klassenrede und eines Liebesbriefs schreibt die Protagonistin eine Liebeserklärung an sich selbst und appelliert an ihre Entscheidungsfreiheit.

Wedekinds Frühlings Erwachen trifft Raimunds Die gefesselte Phantasie. Angesichts der Kritik an der Naivität der Reichen irritiert das Ende mit einem Deus ex Machina, als wolle man sich der Thematik lachend entledigen. (Christina Janousek, 3.5.2023)