Seit drei Tagen wohnt wieder ein Baby bei Natalie. Tagsüber trägt sie den dreimonatigen Buben in einer Tragehilfe eng bei sich.
Foto: Regine Hendrich

An diesem Nachmittag ist es sehr ruhig in der Wohnung von Natalie (ihren Nachnamen möchte sie nicht in den Medien preisgeben). Die Sonne scheint durch die großen Fenster ins Wohnzimmer. Der ganze Raum ist voller Babyzeug. In der einen Ecke steht ein Bettchen, in der anderen ein Hochstuhl mit Babysitz. Auf dem Boden eine flauschige Decke mit Spielebogen. Vor zwei Stunden lag darauf noch Tessa. Ein Baby, drei Monate alt, das eigentlich anders heißt. Hin und wieder hörte man sie summen, dann wieder laut quietschen. Vor zwei Stunden noch war Natalie die Mutter für Tessa. Zumindest auf Zeit. Jetzt ist Tessa weg. Sie lebt nun wieder bei ihrer leiblichen Mutter.

Dauerbereitschaft

Sich immer wieder verabschieden gehört zum Job von Krisenpflegemutter Natalie. Die Kinder im Alter von null bis drei Jahren bleiben nicht lange bei ihr, im Idealfall maximal acht Wochen. Es sind Kinder, die schnellstmöglich aus ihren Familien genommen werden müssen. Weil sie dort gefährdet sind, weil ihre eigenen Eltern sich nicht kümmern können. Die Gründe sind vielfältig: Drogen, Alkohol, Vernachlässigung, auch Gewalt oder Missbrauch.

Wenn die Krisenpflegemutter einen Anruf von der Vermittlungsstelle bekommt, geht alles sehr schnell. Am Telefon bekommt sie nur die wichtigsten Informationen: Alter, Geschlecht, Größe des Kindes. Natalie beginnt dann sofort mit den Vorbereitungen. Sie besorgt Milchpulver für das Baby, sortiert Kleidung aus dem Schrank, macht das Bettchen bereit. Bei älteren Kindern sucht sie Spielzeug heraus, stellt eine Schale mit geschnittenem Obst oder Kekse auf den Tisch. Innerhalb weniger Stunden stehen dann die Sozialarbeiter samt Kind vor ihrer Tür. "Die Babys schlafen meist im Maxicosi, wenn sie hier ankommen", sagt sie.

Im Schrank stapeln sich große Kisten. Darin ist Kleidung für Kinder von null bis drei Jahren sortiert – für jede Jahreszeit.
Regine Hendrich

Wie fühlt sich das an, wenn plötzlich ein fremdes Kind einzieht? "Es ist immer sehr aufregend", sagt Natalie. "Die ersten Tage sind nur zum Kennenlernen da. Wir verlassen kaum die Wohnung." Die Kinder werden aus schwierigen Situationen herausgeholt, sind teilweise traumatisiert. "Wenn sie hier ankommen, weinen sie in den ersten Tagen viel und brauchen Ruhe."

Natalie erinnert sich, wie es bei Tessa war: "Ich habe sie schlafend aus dem Maxicosi gehoben und ins Babybettchen hier im Wohnzimmer gelegt. Sie hat dann bestimmt noch eine ganze Stunde geschlafen." Die Krisenpflegemutter wartet dann gespannt, bis das Baby aufwacht. Sie bleibt immer in der Nähe, schaut regelmäßig, ob alles gut ist. "Als Tessa munter wurde, lag sie ganz ruhig im Bettchen. Sie gab keinen Ton von sich. Sie hat sich umgesehen, als würde sie überlegen, wo sie ist", erzählt sie. "Hallo Tessa", hat sie dann leise gesagt und das Baby angesehen. Und Tessa, die hat ganz einfach gelächelt. "Mir ist sofort das Herz aufgegangen."

Egal ob Baby oder Kleinkind, die Kinder spüren, dass etwas anders ist, sagt Natalie. Verstehen können sie es nicht. Und dann?

Viel Kuschelzeit

"Viele Kinder wollen zuerst einmal gekuschelt werden." Andere hingegen können Nähe nicht aushalten. Natalie muss sich behutsam herantasten, ihr Vertrauen gewinnen. Die Babys trägt Natalie tagsüber meist in einer Trage eng am Körper. "Sie lieben das. Sie brauchen das", sagt sie. Auch nachts schlafen die Babys im Bett bei ihr. "Ich will sie nicht allein lassen. Sie sollen merken, dass ich immer da bin." Wie es bei Babys nun einmal so ist, wachen sie nachts auf, wenn sie Hunger haben oder sie etwas anderes plagt. Die Krisenpflegemutter ist dafür gut ausgestattet. Direkt neben dem Doppelbett steht eine Milchmaschine, die auf Knopfdruck ein richtig temperiertes Fläschchen zubereitet. "Ich lerne dazu", sagt sie und lacht.

Nach einigen Tagen sind Krisenpflegemutter und Kind meist gut eingespielt. Natalie geht mit den Kindern auf den Spielplatz, nimmt sie mit zum Einkaufen, besucht Freunde. Man könnte sagen: Ein normaler Familienalltag kehrt ein. Obwohl sie nie weiß, wie lange das Kind bleibt. Tessa etwa war nur einen Monat bei ihr. Der Abschied von jedem Kind schmerzt. Es fließen auch Tränen. "Dann freue ich mich aber schon auf das nächste Kind, dem ich helfen kann."

Natalies leibliche Tochter Lili (13) freut sich über die Pflegekinder – und packt mit an: Sie trägt die Kleinen herum, kuschelt, tröstet, füttert, wickelt, spielt. Ist mal kein Krisenpflegekind da, genießen Mutter und Tochter die Zeit zu zweit.
Regine Hendrich

Natalie ist noch nicht lange Krisenpflegemutter. Erst im August 2022 hat die 45-Jährige damit angefangen. Seither waren schon fünf Kinder bei ihr. Bei ihr und bei ihrer leiblichen Tochter Lili (Name geändert, Anm.). Lili ist dreizehn, geht ins Gymnasium und spielt gerne Fußball. Der Teenager ist stolz auf seine Mama: "Ich erzähle jedem, dass sie jetzt Krisenpflegemutter ist."

Endlich Gehalt

Davor war Natalie über zwanzig Jahre in einer Anwaltskanzlei beschäftigt, zuletzt in der Marketingabteilung. Doch dann hatte sie den Wunsch nach einer radikalen Veränderung. "Ich wusste, dass ich Kindern irgendwie helfen will."

Als Krisenpflegemutter zu arbeiten war für sie aber bislang nicht möglich. "Das wäre sich finanziell für mich als Alleinerzieherin nicht ausgegangen." Erst mit der Reform im Herbst konnte sie sich ihren Wunsch erfüllen und Krisenpflegemutter werden. Sie gehört in Wien zu den ersten mit Anstellung und fixem Gehalt (1500 Euro netto). Davor haben Krisenpflegeeltern lediglich einen Euro über der Geringfügigkeitsgrenze verdient.

Krisenpflegeeltern gesucht

Seit vielen Jahren werden Krisenpflegeeltern in ganz Österreich dringend gesucht. In Wien gibt es derzeit 41, davon sind 33 fix angestellt. "Wir brauchen noch etwa zehn weitere geeignete Personen mit Anstellung", sagt Martina Reichl-Roßbacher, Leiterin des Fachbereichs für Pflegekinder in Wien. Angestellte Krisenpflegeeltern stehen immer zur Verfügung, sie besuchen verpflichtende Weiterbildungen, Supervisionen und übernehmen Kinderarztbesuche. "Gerade für Babys und Kleinkinder sind flexible Pflegeeltern enorm wichtig", sagt Reichl-Roßbacher. "Dort bekommen sie die Eins-zu-eins-Betreuung, die sie brauchen." Weil es aber zu wenige Krisenpflegeeltern gibt, können derzeit nur Kinder bis drei Jahren in Familien untergebracht werden. Ältere Kinder, die vom Kinder- und Jugendamt in Obhut genommen werden, kommen in eine sozialpädagogische Einrichtung. "Besser wäre es, wenn Kinder bis zum Vorschulalter bei Krisenpflegeeltern leben könnten", sagt Reichl-Roßbacher.

Die Grafik zeigt, wie viele Kinder in den Bundesländern in Pflegefamilien und in sozialpädagogischen Einrichtungen untergebracht werden. (Hinweis: Die Daten für das Jahr 2022 liegen noch nicht vor)
Foto: Der STANDARD

Die Krisenpflege ist eine Zeit, in der abgeklärt wird, ob die Kinder wieder zu ihren Familien zurückkommen oder ob es andere Maßnahmen braucht. Das Jugendamt verhängt für die leiblichen Eltern spezielle Auflagen, die sie innerhalb von sechs bis acht Wochen erfüllen müssen. Doch der Prozess kann viel länger gehen: "Ich kenne Krisenpflegeeltern, die hatten Kinder viele Monate bei sich", sagt Natalie. Auch bei Natalie lebte ein kleines Mädchen vier Monate lang, ehe es zu einer Pflegefamilie kam.

Abschiedsrituale

Etwa 40 Prozent der Kinder kommen in ihre eigenen Familien zurück, 60 Prozent werden an Langzeitpflegeeltern vermittelt. In der Zeit der Abklärung muss Natalie eine Stunde pro Woche einen verpflichtenden Besuchskontakt mit den leiblichen Eltern der Kinder abhalten. Eine sehr emotionale Situation. Für beide Seiten: "Die meisten Eltern wollen natürlich ihre Kinder zurück", sagt Natalie. "Ich bin selbst Mutter. Die Mütter weinen zu sehen ist sehr verständlich für mich."

Schaffen es die Eltern, die Auflagen des Jugendamtes zu erfüllen, kann es schnell gehen. Dann dürfen die Kinder wieder zu den eigenen Eltern zurück. So war es auch bei der kleinen Tessa. "Das ist auf der einen Seite wunderschön, für Mutter und Kind", sagt Natalie. "Auf der anderen aber auch immer schwierig." Für Natalie bedeutet es nämlich: Sie wird nichts mehr von Tessa hören. Der Kontakt bricht ab. Im Gegensatz zu Langzeitpflegeeltern: "Dann bleiben wir in Kontakt. Wir hören uns regelmäßig, die Pflegeeltern schicken Bilder, oder wir treffen uns."

Schon Tage vor der Übergabe bereitet sich Natalie auf den Abschied vor: "Ich fertige ein Fotoalbum an und schreibe Worte an die Kinder." Ist das Kind dann weg, wird zu Hause erst einmal aufgeräumt und geputzt. Ein Ritual, das der Krisenpflegemutter beim Trennungsschmerz hilft. Abends geht sie mit Tochter Lili ins Kino oder in ein Restaurant schick essen. "Wir genießen die Zeit zu zweit." Gerade hatten Natalie und Lili zehn Tage Pause. Zehn Tage ohne Baby oder Kleinkind. Dann klingelte wieder das Telefon: "Ein kleiner Bub, drei Monate, wir bringen ihn in 20 Minuten", sagte der Sozialarbeiter.

Einfach nur Mama

Und wenige Tage später steht Natalie mit neuem Baby in der Trage in der Tür. Sie freut sich: "Unser erster Bub." Sie hat das Kind bereits sehr liebgewonnen, das merkt man. Behutsam streichelt sie seine Füßchen, küsst es zärtlich auf den Kopf. Es ist ein Bild einer liebenden Mama mit ihrem Baby. Auch wenn es nicht ihre eigenen Kinder sind. Natalie ist nicht nur eine Mama auf Zeit. Für die Kinder, die in schweren Krisen zu ihr kommen, ist sie vor allem eine Mama, die sie liebhat. (Nadja Kupsa, 13.5.2023)