Ein Radweg in rotrosa Pflasterung, darüber quergeschwungen zwei parallele gelbe Linien. Eine provisorische Umleitung, deren Umleitungsanlass schon wieder aus dem Bild und der Welt verschwunden ist. Das passiert jeden Tag in irgendeiner Stadt, aber aus der Vogelperspektive und in menschenleerem Zustand erscheint die aus der Pragmatik entstandene Linienführung zart, elegant, absichtsvoll skizziert. Provisorium lautet der Titel der Bildserie des Hamburger Fotografenduos Nicole Keller und Oliver Schumacher. "Uns interessieren vor allem die absurden, irritierenden, komischen Provisorien", sagen sie. "Es sind erfrischende Brüche in der sonst so perfekten Welt. Sie machen Unmögliches möglich. Zugleich zeigt sich da auch etwas Unschuldiges, als hätten Kinder ihre Hand im Spiel."

Sie haben dorthin geschaut, wo andere nicht hinschauen, die Preisträger des Europäischen Architekturfotografie-Preises: Hier ein Bild von Keller/Schumacher.
(c) Nicole Keller & Oliver Schum

Die Provisorien der Hamburger wurden an diesem Freitag mit dem Europäischen Architekturfotografie-Preis ausgezeichnet, der seit 2003 vom deutschen Verein Architekturbild in Kooperation mit dem Deutschen Architekturmuseum (DAM) und der Bundesstiftung Baukultur verliehen wird. "Der zarte Humor, der bei jedem Motiv mitschwingt, und das subtile Farbspiel binden die Aufnahmen trotz aller Verschiedenheit zu einer intellektuell-ästhetischen Serie zusammen", lobt die Juryvorsitzende Dea Ecker.

Architektur als Hintergrund

Gesucht und honoriert wird hier nicht jene Fotografie, die den Auftrag hat, Architektur zu bewerben und im besten Licht darzustellen. Stattdessen halten die Bilder im Idealfall eine Spannung zwischen dokumentarischem Reportagegestus und der Architektur als Schauplatz oder Hintergrund, ohne in hübsche Gefälligkeit abzugleiten. Sie lenken den Blick auf das, was stört und irritiert, aber wahrhaftig ist, auf die Kollision mit dem Alltag, auf den Gegensatz zwischen dem Geplanten und dem Geschehenen und auf die Komik, die aus dieser Fallhöhe resultiert. Sie rücken das, was sonst retuschiert oder ausgeblendet wird, wieder ins Bild. Reparaturen, Behelfsmäßiges, Workarounds. Spuren menschlichen Lebens.

Hiepler/Brunier
Foto: Hiepler/Brunier

Zwei weitere Preise gingen an Katharina Roters und an Hiepler, Brunier (alle aus Berlin). Roters zeigt in Schwarz-Weiß Hinterhofwände aus Armenien, über die Jahrzehnte zu einem Fleckerlteppich gewachsen, darauf in weißer Kreide markiert große und kleine Fußballtore, Spuren des Homo ludens. David Hiepler und Fritz Brunier hielten in der Serie Gap Stop neue Wohnbauten am wachsenden marokkanischen Stadtrand fest, die fast nur aus Rückseiten bestehen. Abstrakte Geometrien in der Terra incognita, in Sandbeige und Terrakottarot, wie surreale Bausteine einer Stadt, die noch nicht zusammengesetzt ist, verstreutes Lego. Wohnen hier schon, oder noch, Menschen?

Ruinen im Ahrtal

Andere dokumentieren subtil Brüche in der Gesellschaft und Spuren von Katastrophen, die in den Alltag eingebrochen sind. Besonders eindrücklich: Matthias Jungs nächtliche Szenen von schlammigen Ruinen, umgekippten Bahntrassen, halbierten Häusern, wie aus einem David-Lynch-Albtraum auftauchend. Sie wirken zeitlos, sind aber hochaktuelle Ruinen aus der Flutkatastrophe im Ahrtal im Sommer 2021, über die schon niemand mehr redet, die aber einen Landstrich zerfurcht und Wohnraum unbewohnbar gemacht hat, eine Zerstörung, die noch lange nicht repariert ist.

Matthias Jung
Foto: Matthias Jung

Thomas Kummerow wiederum widmet sich in Makeshift Life ganz anderen, weniger heiteren Provisorien: den Selbstbau-Unterkünften von Wohnsitzlosen in Madrid. Es sind rührend präzise angefertigte Schutzräume für Privatheit und Würde, in Nischen, auf Parkplätzen und auf Terrassen. Hier ein ordentlich platzierter Besen. Dort ein Aktenkoffer als Nachttisch, ein gelber Farbkübel als Trittstufe vor einem Betonpodest.

Thomas Kummerow
Foto: Thomas Kummerow

Die Preisverleihung 2023 fällt genau in eine Zeit des Umbruchs, was Preisverleihungen für Fotografie betrifft. Im April gab der deutsche Künstler Boris Eldagsen bekannt, dass er jenes Bild, für das er den Sony World Photography Award bekommen hatte, von künstlicher Intelligenz hatte generieren lassen, um auszutesten, ob die Jury es bemerken würde. Sie bemerkte es nicht, Aufruhr und Selbstreflexion folgten.

1935 publizierte Walter Benjamin sein einflussreiches Werk über das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit und beschrieb den Verfall der Aura des Einzigartigen, die epochale Veränderung der Malerei durch die Fotografie – den anderen Blick des 20. Jahrhunderts. Fast ein Jahrhundert später könnte der nächste Umbruch anstehen: das Kunstwerk im Zeitalter seiner Transhumanität.

Kunst oder KI?

Kann eine Maschine so kreativ sein wie ein Mensch, möglicherweise sogar noch kreativer? Der Sänger Nick Cave beantwortete das im Jänner auf Anfrage eines Fans, der ihm einen Nick-Cave-artigen Song aus KI-Feder geschickt hatte, mit einem passionierten Nein. "Einen guten Song zu schreiben ist nicht Mimikry, sondern das Gegenteil." Ein Werk zu schaffen, das transportiere die Künstlerin über ihre eigenen Grenzen, an ihre Verletzlichkeit und Vergänglichkeit. Das mag für manche zu viel des Pathos sein, doch für die Fotografie lässt sich die Frage auch weniger dramatisch beantworten.

Sven Weber
Foto: Sven Weber

Denn wenn gerade die Fotografen, die ihren Blick zur leicht konsumierbaren Clickbait-Marke machen, jene sind, die sich gerade dank ihrer Unverwechselbarkeit am leichtesten von einer KI reproduzieren lassen, wird der überraschende Blick, das Hinschauen dorthin, wo der algorithmische Durchschnitt eben nicht hinschaut, um vieles wertvoller. Das Unerwartete, das Inkongruente, den gelben Kübel, der als Trittstufe vor dem Behelfslager eines Wohnsitzlosen dient, all das werden Midjourney und andere vielleicht weniger überzeugend nachahmen. Vielleicht können sie es doch, und vielleicht ist es dann gar nicht erschütternd, einzugestehen, dass Datenbanken schöpferisch tätig sein können. In jedem Fall werden wir den Blick auf die Spuren menschlichen Lebens noch weiter schärfen und justieren müssen. (Maik Novotny, 14.5.2023)