Neben der Straße wird auf die Einfahrt nach Gagausien hingewiesen, darunter steht auf Gagausisch noch der sowjetische Name der Region.

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Es ist Mitte März 2023. Beim Wahlkampfauftakt von Grigorij Usun im moldauischen Komrat wird ordentlich Stimmung gemacht für den stämmigen Mann mit dichtem Vollbart, der sich um das Amt des Başkan bewirbt – so heißt der Regionalgouverneur der autonomen Region Gagausien. "Ich bin sicher, dass er nicht einen Monat nach der Wahl beginnt, Rumänisch zu lernen, wie die jetzige Başkan", husst der ehemalige Präsident Moldaus, Igor Dodon, die Versammelten auf Russisch auf. Auch sehe Usun die Zukunft Moldaus nicht in der Europäischen Union, wie die jetzige Regierung, die das Land an George Soros verkaufe. Usun – das sei ein tiefgläubiger Mensch, einer, dem man vertrauen kann.

"Gagausien entscheidet selbst!", verspricht Kandidat Grigorij Usun auf einem Plakat.
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Hintermänner in beiden Lagern

Knapp zwei Monate später ist der erste Wahlgang geschlagen. Nach dem Urnengang am 30. April sind von den acht Kandidatinnen und Kandidaten zwei in der Stichwahl: Der eine ist Usun, unterstützt von der Sozialistischen Partei des Ex-Präsidenten Igor Dodon; die andere ist Evgenia Gutsul. Sowohl sie als auch Usun erhielten im ersten Wahlgang rund 26 Prozent der Stimmen, damit ist der zweite Wahlgang völlig offen.

Auch Gutsul kann mit vollmundigen Versprechungen aufwarten: Wenn sie gewinnt, so verspricht sie, wird Gagausien eine Botschaft in der russischen Hauptstadt Moskau eröffnen. Und auch sie hat einen mächtigen Mann hinter sich, der sie unterstützt: den Oligarchen Ilan Șor, Gründer der Șor-Partei, der mutmaßlich in Israel weilt, nachdem er wegen Diebstahls in Milliardenhöhe zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Șor wird außerdem vorgeworfen, in den vergangenen Monaten regelmäßig tausende Demonstrantinnen und Demonstranten in die Hauptstadt Chișinău gebracht zu haben, um Stimmung gegen die amtierende Regierung zu machen – mutmaßlicherweise gegen Bezahlung. 2022 erließen die USA Sanktionen gegen Șor, seine Ehefrau und die Șor-Partei aufgrund von Einmischung in den Wahlprozess in Moldau im Interesse Russlands. Auf Wahlplakaten, die das "Land der Träume" versprechen, steht er sinnbildlich hinter Gutsul.

Ob Șor Partei oder Sozialisten im Hintergrund – eines eint Usun und Gutsul jedenfalls: die Nähe zu Russland. Erst zuletzt gab Usun der russischen Nachrichtenagentur Ria ein Interview, in dem er erklärte, nur eine Partnerschaft mit Russland könne Moldau auf den Pfad wirtschaftlicher Entwicklung bringen. Gutsul versprach in einem Gespräch mit einem Duma-Abgeordneten und Vorsitzenden der russischen LDPR Ähnliches.

"Ich wähle Evgeniya Gutsul!", sagt Oligarich Ilan Șor auf diesem Wahlplakat. Die bildliche Metapher ist treffend: Șor gilt als der starke Mann hinter Gutsul. "Gagausien wird das Land der Träume!", verspricht ein weiterer Slogan auf dem Plakat.
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Schon in der ersten Wahlrunde war kaum einer der acht Antretenden äußerst russlandkritisch; nun sind aber zwei Hardliner übrig geblieben. "Beide Kandidaten sind stark prorussisch", sagt Mihail Sirkeli im Gespräch mit dem STANDARD. Sirkeli ist Journalist und Herausgeber des gagausischen Onlinemediums "nokta.md". Er unterstreicht vor allem den Einfluss von Igor Dodon und Ilan Șor. "Dodon ist eine Marionette Putins", sagt der Medienmanager. Seine politische Legitimität hänge einzig und allein vom russischen Präsidenten ab. Șor sei nicht viel besser, Sirkeli bezeichnet ihn als Opportunisten und als Chef einer Gruppe von organisierten Kriminellen.

Ein Schritt weiter

Die amtierende Başkan ist Irina Vlah. Sie wird teilweise als moderat beschrieben, was Sirkeli verneint. Immerhin ließ auch Vlah sich vor den Wahlen 2015 mit hochrangingen russischen Politikern, darunter auch Putin, ablichten, und kam mit starker russischer Unterstützung in das Amt. Auch sie stand in Opposition zu der EU-freundlichen Regierung in Chișinău. Als "machiavellistisch" beschreibt sie Sirkeli: Auch wenn sie sich manchmal anders gab, fielen alle ihre Entscheidungen immer zugunsten Russlands aus. Im Vergleich mit Gutsul und Usun aber könne man sie sehr wohl als moderat beschreiben. "Diese Kandidaten gehen einen Schritt weiter", sagt Sirkeli.

Und das könnte Konsequenzen haben. Das gagausische Nationalparlament ist nämlich schon jetzt mehrheitlich mit eindeutig prorussischen Abgeordneten besetzt. Der Başkan aber ist das höchste Exekutivorgan in Gagausien, ist darüber hinaus Teil der moldauischen Regierung und hat auch in legislative Kompetenzen. Nicht zuletzt kann der Sieger oder die Siegerin als neues Oberhaupt Gagausiens eine noch ablehnendere Haltung gegenüber der proeuropäischen Regierung von Maia Sandu und der EU propagieren.

Die amtierende Başkan Irina Vlah gibt ihre Stimme beim ersten Wahlgang am 30. April ab.
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Das hätte wohl auch Auswirkungen auf die politische Situation in ganz Moldau. Präsidentin Maia Sandu und die moldauische Regierung zeigen seit langem klare Kante gegen russische Einflussnahme, die Regierung verbot etwa Symbole des russischen Angriffskrieges und russischsprachige Medien. Währenddessen gibt es aber bereits mit Transnistrien eine moldauische Teilregion, die teilweise als de facto unabhängig beschrieben wird und laut dem Europarat von Russland besetzt ist. Dort sind seit den 1990er-Jahren 1.500 russische Truppen stationiert.

Gagausien ist seit 1994 autonome Region der Gagausen, einem Turkvolk, das aber mehrheitlich christlich-orthodox ist. Die etwa 130.000 Einwohner zählende Region ist weniger unabhängig als Transnistrien, die Rhetorik ist dafür aber mitunter umso schärfer, und fast alle politischen Akteure dort schieben die Schuld für Armut und wirtschaftliche Flaute auf die proeuropäische Regierung und die EU. Dass der Kreml Interesse an einer Destabilisierung hat, zeigte zuletzt ein Bericht des "Kyiv Independent" über ein geleaktes Dokument, das einen russischen Plan vorzeichnet, Moldau bis 2030 unter russische Kontrolle zu bringen.

Oligarch Ilan Șor hat sich vor den Wahlen nicht lumpen lassen: Er ließ unter anderem den russischen Superstar Filipp Kirkorow eine Hymne auf Gagausien, das "Land der Träume", singen.

Destabilisierung als Strategie

"Gagausien ist für Moldau ein Stachel im Fleisch", sagt Keith Harrington von der Dublin City University, der über Gagausien forscht. Er sieht Parallelen zwischen der Region und den umstrittenen Gebieten Abchasien und Südossetien in Georgien. Auch wenn Russland in naher Zukunft – nach dem derzeitigen Verlauf des Krieges in der Ukraine – wohl keine militärische Gefahr für Moldau darstellt, so kann es über den nächsten Başkan Moldau auf seinem Weg gen EU zumindest behindern. Durch die Besetzung von Abchasien und Südossetien verhindert Putin, dass Georgien in naher Zukunft in die EU, geschweige denn in die Nato eintritt. Das sei auch in Moldau die Strategie und einzige Möglichkeit, so Harrington. "Die Alternative wäre, das Land zu überfallen und zu okkupieren. Wir sehen aber in der Ukraine, wie gut das funktioniert", so der Historiker.

Sieht man sich die Besetzung des moldauischen Parlaments an, deutet auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass der proeuropäische Kurs der Partei "Aktion und Solidarität" von Maia Sandu in Gefahr ist: Die Partei stellt 63 der 101 Abgeordneten. Die Șor-Partei verfügt demgegenüber lediglich über sechs Sitze. Aber Harrington gibt zu bedenken: Wenn Gutsul, die Repräsentantin Ilan Șors, die Wahl gewinnt, könnte das Șor auch national wieder Auftrieb verleihen. Außerdem gehe es nicht darum, alleine die Mehrheit zu erlangen. Da bis auf "Aktion und Solidarität" alle Parteien einen Anti-EU-Kurs fahren, müssten die anderen Parteien nur ein paar Prozentpunkte mehr erhalten und "Aktion und Solidarität" ein paar Stimmen weniger. Dann könnte sich die politische Situation wenden, warnt Harrington – auch in Bezug auf eine EU-Mitgliedschaft. "Ich glaube nicht, dass Moldaus Pfad in die EU gesichert ist."

Auch Medienmanager Sirkeli hat zu dieser Frage eine klare Meinung, allerdings die gegenteilige: "Gagausien wird den Weg Moldaus in die EU nicht aufhalten können." Er will sich im Gespräch nicht abschließend dazu äußern, wie unterschiedlich Gutsul und Usun ihr Amt anlegen würden; zunächst einmal solle man die Wahlen abwarten, sagt er. Und womöglich kommt sowieso alles anders als gedacht.

Vergangenen Mittwoch begann der moldauische Verfassungsgerichtshof nämlich die Verfassungsmäßigkeit der Șor-Partei zu überprüfen. Im Raum stehen illegale Parteienfinanzierung sowie die Organisierung von Massenunruhen. Damit wäre auch die Kandidatur von Evgenija Gutsul in Gefahr. Eine Entscheidung wird kommende Woche erwartet. Bei einer Entscheidung gegen die Șor-Partei könnte die ganze Wahl noch einmal von vorne beginnen. (Levin Wotke, 13.5.2023)