"Es kann nicht genug Stimmen geben, die vor einer Koalition mit der FPÖ warnen", sagte mir am Wochenende eine herausragende bürgerliche Historikerin, als wir über die sich abzeichnende Strategie der Verharmlosung des Vormarschs der FPÖ durch die Sprecher und die befreundeten Journalistinnen und Journalisten der Volkspartei diskutierten. Herbert Kickl, jahrzehntelang im Hintergrund erfindungsreicher Skriptschreiber für die FPÖ-Spitze von Jörg Haider bis Heinz-Christian Strache, kann endlich als Nummer eins das Rampenlicht genießen und ist in seiner Linzer Bierzeltrede vom 1. Mai zu großer Form aufgelaufen.

Will nicht, dass die ÖVP vor dem "Schreckgespenst" FPÖ in die Knie geht: Verfassungsministerin Karoline Edtstadler.
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Nichts wäscht weißer als Wahlerfolge. Wenn aus dem Zwielicht der Verhandlungen etwas entsteht, von dem zuletzt scheinbar beide Koalitionspartner profitieren, verschwinden peinliche Nachfragen über Kickls Ambition, ein "Orbán made in Austria" zu werden, wie von selbst. Der Marsch zum Kanzleramt durch den "Volkskanzler" wird mit dem Appell,"zu differenzieren statt zu moralisieren" (Kurier, 14. 5.), verharmlost. Oder durch das Loblied Johanna Mikl-Leiters auf die "reibungslos funktionierende Koalition" mit dem rechten Burschenschafter als ihrem Stellvertreter. Oder mit der Lobpreisung der Statthalterin Kickls in der auflagenstärksten Zeitung als "Blaues Wunder von Salzburg", sogar mit einem abgebildeten riesigen Tattoo auf dem Rücken.

Festung Österreich

Die einzige aktive ÖVP-Bundespolitikerin, für die "Freiheitliche, die Putins Propaganda im Nationalrat propagieren, einer ‚Orbánisierung‘ Österreichs das Wort reden und von einer Festung Österreich sprechen, ein Schreckgespenst" sind, ist die für Verfassung und EU zuständige Ministerin Karoline Edtstadler. Die intelligenteste ÖVP-Politikerin, die als künftige EU-Kommissarin favorisiert wird, versuchte zugleich allerdings in Interviews die Gefahr mit Hinweis auf Wolfgang Schüssels schwarz-blaues "Meisterstück" aus dem Jahr 2000 zu relativieren. Aber der Vergleich hinkt: Schüssel war damals der General, der Treibende, dessen politisches Talent Haider unterschätzt hatte. Karl Nehammer ist jetzt der Getriebene, der in einer anderen Liga spielt als der Treibende, der mit allen Wassern gewaschene Kickl.

Edtstadler hat allerdings recht, dass die Politiker und die Medien "endlich in die Gänge kommen und die Menschen informieren müssen", ebenso wie Karl-Markus Gauß (siehe "Das lethargische Land"), dass "wir uns der politischen Gefahr zu stellen haben". Ein vernichtender Artikel in der weltbesten Wochenzeitung, dem Londoner Economist, am Freitag über die Korruption, die FPÖ-Erfolge und die viel zu engen Kontakte mit Russland, endet mit der Warnung, Österreich könnte zu einem zweiten Ungarn, zu einem europäischen Problem werden.

Nicht nur die SPÖ befindet sich in einer existenzgefährdenden Krise. Die zeitgerechten Warnungen Othmar Karas’, des langjährigen ersten Vizepräsidenten des Europaparlaments, sind in seiner eigenen Partei ungehört verhallt. Trotz scheinbarer Einheit könnte die Partei Alois Mocks, Erhard Buseks, Heinrich Neissers und Franz Fischlers ohne eine Wende in ihrer Anti-EU-Rhetorik und kraftlosen Wirtschaftspolitik zu einem Vasallen der dynamischen extremen Rechten verkommen. (Paul Lendvai, 16.5.2023)