Das medizinische Phänomen Delirium und seine Behandlung rücken in den Fokus der Forschung.
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Schreien, Halluzinieren, Spinnen sehen, aber auch Schläfrigkeit und Bewegungslosigkeit – all das sind Symptome von Delirium oder Delir. Zusammen mit Demenz ist es die Hauptursache für geistige Einschränkungen bei älteren Menschen. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Personen, die über 65 Jahre alt sind, im Spital delirant werden.

Delir ist ein plötzlich auftretendes klinisches Syndrom, das Aufmerksamkeit, Bewusstsein und die geistige Funktionsfähigkeit stört. Dennoch wissen Betroffene sehr wenig darüber, auch das österreichische Gesundheitssystem ist nicht genügend dafür vorbereitet. Besonders anfällig für ein Delirium sind ältere Menschen mit Langzeiterkrankungen. Dehydrierung, Mangelernährung, Medikamente oder Verstopfung sind typische Auslöser. Doch auch junge Menschen können delirant werden.

Stress als Auslöser

"Delirium hat immer auch eine organische Ursache, die zeigt, dass der Körper in einer absoluten Notsituation ist. Man wird nicht ohne Grund delirant", sagt Verena Tatzer, Ergotherapeutin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Wiener Neustadt. Zusammen mit einer italienischen Forschungsgruppe erforschte sie die Krankheit und ihre nicht-medikamentöse Behandlung. Die Erkenntnisse erschienen jüngst in einem wissenschaftlichen Artikel in der Fachzeitschrift "Geriatrics".

Auf den ersten Blick wirkt es paradox: Menschen werden häufig erst nach der Einlieferung ins Krankenhaus delirant. Sie landen beispielsweise wegen eines Unfalls oder einer körperlichen Beschwerde im Spital. Dort ist die klinische Umgebung fremd, es fehlen gewohnte Strukturen oder Personen, die sonst Halt geben. Zudem fehlen Brille oder Hörgerät, die in der Ausnahmesituation vergessen wurden.

Solche stressigen Situationen können ein Delirium auslösen. Dessen Häufigkeit stieg in der Covid Pandemie, viele Covid-Erkrankte wurden zusätzlich delirant. Das Besuchsverbot verstärkte diese Problematik. Angehörige sind nach den neuen Erkenntnissen wichtig für die Rehabilitation, da sie biografische Anknüpfungspunkte bieten.

Hirn braucht Aktivität

Das Wichtigste sei, ein Delir zu verhindern, bevor es auftritt. "Wenn ein Delir aufgetreten ist, muss man es so schnell wie möglich behandeln, damit es wenig bleibende Schäden verursacht", sagt die Ergotherapeutin. Aber wie weiß man überhaupt, ob ein Delir vorliegt?

Hier helfen Screening-Instrumente, die aufwendiger und technischer klingen, als sie sind. Beim 4AT-Test etwa werden Personen auf Schläfrigkeit, Orientierung, Aufmerksamkeit und die Plötzlichkeit der Bewusstseinsveränderung überprüft. "Das dauert zwei Minuten, das kann man als Gesundheitsprofi immer in der Tasche haben, um im Fall schnell zu reagieren", sagt Tatzer.

"Das Gehirn braucht Aktivität", fügt sie hinzu. Früher waren Personen nach Operationen länger im künstlichen Tiefschlaf. Mittlerweile weiß man aber: Je früher die Rehabilitation beginnt, desto schneller verläuft die Genesung. Für die Orientierung spielen alle Sinne eine wichtige Rolle und deshalb auch Brille und Hörgerät. Gute Anhaltspunkte für Patientinnen und Patienten bieten auch Uhren und Kalender oder der Name des Krankenhauses und die Zimmernummer.

Auch persönliche Gegenstände und Lieblingsaktivitäten können Orientierung schaffen und die Betroffenen in die Realität holen. Das können einfache Aktivitäten wie zum Beispiel Gesicht waschen, Fotos anschauen, oder Karten sortieren sein. Je nach dem, was die Person im Leben gern gemacht hat, schildert Tatzer. "Da können die Menschen besser anknüpfen. Das wirkt wie ein Hilfsanker." Die Behandlung von Delir wirke am besten multidisziplinär, mit einem Mix aus Ergotherapie, Medizin, Pflege und dem gesamten geriatrischen Team.

Krankenhäuser stellen eine neue und ungewohnte Umgebung dar, die Patientinnen und Patienten überfordern kann. In dieser Lage bieten persönliche Gegenstände oder auch der Besuch von Verwandten Orientierung und schützen vor Negativfolgen.

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Strukturen anpassen

Österreich liegt ungeachtet seiner alternden Gesellschaft bei der geriatrischen Versorgung im europäischen Vergleich im Schlussfeld. Die Strukturen seien nicht auf den demografischen Wandel vorbereitet, kritisiert Tatzer. Zwar gebe es Spitäler mit speziellen geriatrischen Stationen, etwa in Kärnten, wo die Notaufnahme eng mit der Geriatrie zusammenarbeite.

Beim geriatrischen Know-How sei aber noch viel Luft nach oben. "Wir bräuchten viel mehr Therapeutinnen. Neben der Pflege, die ja in aller Munde ist, bräuchte es noch viel mehr Gesundheitsprofis, die integrierter zusammenarbeiten." Best-Practice-Beispiele findet man im europäischen Ausland. In Großbritannien gibt es ein Notfall-Team mit Ergotherapeutin. In Österreich ist das eine große Ausnahme. Solche Strukturen gibt es hierzulande noch nicht, sollte es laut Tatzer aber geben.

Ebenso haben die skandinavischen Länder ein sehr gutes Primärversorgungssystem. Die häusliche Versorgung ergänzt dort die klinische. Das schütze vor allem ältere Menschen von vornherein vor Delirium. In Skandinavien gebe es verschiedenste Therapien und Pflege kostenlos für zu Hause, was die Krankenhäuser entlaste.

Herausforderungen und Chancen

Die Expertin sieht in der aktuellen Situation trotz vieler Herausforderungen auch eine große Chance für die Zukunft. Sowohl persönlich als auch gesellschaftlich lohne sich bei Delir, wie bei vielen anderen Krankheitsbildern, die Prävention. Auf eine geplante Operation könne man sich vorbereiten, indem man sich eine Tasche mit wichtigen persönlichen Gegenständen packt. Oder, indem man sich wichtige Personen einlädt und sichergeht, dass sie zu Besuch kommen.

Es sei auch zentral, Angehörige zu informieren und zu schulen, damit sie wissen, wie sie gut mit ihren Familienmitgliedern umgehen können. Tatzer sieht aber auch das Gesundheitssystem in der Pflicht und spricht sich für demenzfreundliche und altersangepasste Kliniken aus. "Unser Gesundheitssystem ist noch viel zu wenig auf Prävention ausgerichtet. Da gibt es in Österreich noch sehr viel zu tun."

Ein stärkerer Fokus auf Vorbeugung würde gesamtgesellschaftlich Sinn machen: "Es zahlt sich aus, in die geriatrische Versorgung und Gesundheitsberufe zu investieren: Wir könnten uns viel Leid und Kosten ersparen." (Luca Gasser, 19.5.2023)