Der gegenwärtige und vermutlich noch länger anhaltende Zustand der SPÖ lädt in der Endphase einer Legislaturperiode nicht nur zu vielseitiger Häme ein, er ist nun auch Anlass zu einer beträchtlichen Portion moralischer Entrüstung geworden, die bei Gutwilligen einem demokratischen Missverständnis entspringt, aufseiten der Regierung reiner Heuchelei.

Die Grünen haben sich Bundeskanzler Karl Nehammer als Notnagel zur Verfügung gestellt und müssen befürchten, unbedankt gegen die Freiheitlichen ausgetauscht zu werden.
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Die SPÖ hat bekanntlich angekündigt, der türkis-grünen Koalition keine Stimmen mehr zur Verfügung zu stellen, was vor allem in der grünen Klubobfrau alle Quellen der ihr zur Verfügung stehenden Rührseligkeit zum Sprudeln brachte. Die Mandatare hätten geschworen, zum Wohle der Bevölkerung zu arbeiten, statt die Arbeit der Regierung mit "erpresserischen Methoden" zu lähmen.

Über die Taktik der SPÖ kann man verschiedener Meinung sein, nicht aber über die Rechte der Opposition in einer Demokratie. Was fürs Wohl der Bevölkerung zu tun sei, darüber gehen die Meinungen deutlich auseinander, wie sich schon aus der Tatsache verschiedener Parteien, ihrer Programme und ihrer Klientel ergibt. Die plötzliche Gleichsetzung von Opposition mit Erpressung soll über jeden Zweifel erheben, dass allein die Regierung gewissermaßen amtlich wisse, was dem Wohl der Bevölkerung entspricht, und jede Kritik an diesem Herrschaftswissen ein Verbrechen sei. In Viktor Orbáns Ungarn wäre so etwas an der Tagesordnung, in Österreich ist es neu.

Türkis-grüne Schmollwinkel

Die Gereiztheit der Regierenden hat ihren Grund nicht in der Sorge um die Demokratie, das Weltklima oder das Wohl der Bevölkerung, sondern in der um sich selbst. Der Wahltermin rückt näher, wie nahe, ist ungewiss, und bis dahin wollen sie noch ihre in vier Jahren nicht gelegten, aber doch so bunten Eier hartgekocht haben. Der Witz dabei ist, dass vieles längst erledigt und der Erpressung durch die SPÖ enthoben sein könnte, hätten die Regierungsparteien nicht jahrelang – und bis zum heutigen Tag – innerkoalitionär Opposition gegeneinander betrieben. Allein der skandalöse Postenschacher um die Besetzung der Spitze des Bundesverwaltungsgerichts führt Sigrid Maurers Anklagen gegen die SPÖ ad absurdum.

Und wer könnte bestreiten, dass der SPÖ das Wohl der Bevölkerung nicht mindestens ebenso am Herzen liegt wie dieser Regierung, wenn sie auf wirksame Maßnahmen gegen die Teuerung drängt, wie sie bisher leider ausgeblieben sind? Was sagt Frau Maurer dazu? Sie hätte dafür auch gern eine Wunderlösung. Dort, wo es um das unmittelbare Wohl der Bevölkerung geht, ist die billigste Phrase gut genug, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Etwas mehr und endlich wirksame Maßnahmen gegen die in ihrer Amtszeit gewachsene Armut, und die Regierung könnte auf eine Teilhabe der Opposition an ihrem Wirken hoffen. Nur heraus also aus dem türkis-grünen Schmollwinkel, Schluss mit der Blockade bei den Mieten und beim Heizen – und das Klima wäre gerettet!

Es wurde schon festgestellt, dass die Grünen von der Haltung der SPÖ stärker betroffen sind als die ÖVP. Sie haben sich Karl Nehammer als Notnagel zur Verfügung gestellt und müssen befürchten, unbedankt gegen die Freiheitlichen ausgetauscht zu werden, ohne dagegen eine Wunderlösung parat zu haben. Die Panik ist verständlich, und Nehammer lässt sie hartnäckig zappeln. Wenn es um das eigene Wohl geht, ist das der Bevölkerung sekundär. (Günter Traxler, 18.5.2023)