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Der Europäische Gerichtshof hat die Klage der Europäischen Kommission - "Voraussetzungen des Zugangs zum Studium gehören zum Anwendungsbereich des EG-Vertrags, Österreich verletzt den Vertrag" - behandelt und gegen Österreich entschieden. Der Spruch bedeutet: Einen genehmigten Studienplatz im Ausstellungsland des Reifezeugnisses von denen zu verlangen, die kein österreichisches Maturazeugnis besitzen, ist unzulässig. Es gab nur zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren:

1) Der offene Hochschulzugang bleibt erhalten - was bedeutet: Unsere Universitäten müssten Studienwerber aus allen EU-Staaten aufnehmen, auch aus Deutschland, wo es für einige Studienrichtungen einen eingeschränkten Zugang zum Studium aus Kapazitätsgründen gibt.

2) Der offene Zugang für die deutschen Numerus-clausus-Fächer wird abgeschafft - mit der Konsequenz, dass alle EU-Bürger, auch die Österreicher, sich entweder vor Studienbeginn oder im ersten Studienjahr einem Auswahlverfahren für eine bestimmte Zahl von Studienplätzen in allen betroffenen Studien stellen.

Vorwürfe ohne Realitätsgehalt

Die erste Variante wäre zwar für viele wünschenswert, ist aber nicht zu verantworten, weil man nicht wissen kann, wie viele deutsche NC-Flüchtlinge sich nach dem EuGH-Spruch für ein Studium in Österreich entscheiden. Selbst eine nicht allzu große Menge zusätzlicher Studienwerber könnte in einigen Studienrichtungen einen ordentlichen Betrieb unmöglich machen. Oder sollte Österreich zusätzliche Studienplätze oder gar neue Universitäten für EU-Bürger, deren Staaten für sie nicht ausreichend viele Studienplätze finanzieren, schaffen?

Es musste daher Variante 2 gewählt werden - bekanntlich in Form einer zwei Jahre gültigen Universitätsgesetz-Novelle, die acht von 170 Studienrichtungen, (= ca. 30 % der Studienanfänger) betrifft.

Um eine Vier-Parteien-Einigung wurde bis in die Nähe des Erfolgs gerungen, der letztlich aber nicht erreicht wurde. Bedauerlicherweise. Denn eine breite Zustimmung hätte günstige Voraussetzung für eine von sachlichen Überlegungen bestimmte Bewältigung des Paradigmenwechsels in der österreichischen Hochschulpolitik geschaffen.

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Österreich habe, sagt der EuGH, "nicht dargetan", dass eine Änderung des Zulassungsrechts im Sinne der Klage der EU-Kommission den "Bestand des Bildungssystems und die Wahrung der Einheitlichkeit der Hochschulausbildung" gefährden würde.

Ein Versagen der österreichischen Verteidigung? Nein! Erstens handelt es sich nur um die üblichen Formeln einer Urteilsbegründung. Zweitens haben Generalanwalt und Gerichtshof sich mit den angebotenen Zahlenvergleichen (Zahl der Studienanfänger in Österreich versus Übermacht möglicher deutscher NC-Flüchtlinge) überhaupt nicht oder in unzulässiger Weise auseinander gesetzt. Die von Österreich aus diesem Grund beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens wurde jedoch leider abgelehnt.

Manche Kritiker versteigen sich nun zu der Behauptung, Österreich habe durch eine nachlässige Handhabung des Verfahrens insgeheim auf eine Verurteilung hin gearbeitet. Als Indiz dafür gilt ihnen die Formel der Urteilsbegründung ("Österreich hat nicht dargetan ..."). Kein Kritiker aber kann auch nur eine Zeile der österreichischen Stellungnahmen kennen. Die Kritiker übersehen, dass alle Stellungnahmen Österreichs mit höchstem akademischen Sachverstand und dem Wissen der staatlichen Verwaltung vorbereitet und vertreten wurden. Österreich hatte letztlich nur wenig Chancen zu gewinnen, weil es in dem Verfahren nur um Prinzipien, nicht aber auch um die möglichen Auswirkungen einer Verurteilung auf das Bildungswesen. Der Antrag des Generalanwalts hat das klar gemacht.

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Dieselben Kritiker und andere meinen auch, Österreich habe schon immer gewusst, dass das im Jahr 1991 eingeführte differenzierende Zulassungsverfahren vor dem EuGH wegen der in ihm steckenden Diskriminierung nicht halten werde. Diese Regelung, vor den Beitrittsverhandlungen zur EU eingeführt, wurde seither von allen Regierungen vertreten, wortgleiche Formulierungen wurden sogar in neue Gesetze (1997, 2002) übernommen. Die Europäische Kommission hat die Klage erst 2002 eingebracht. Früher, vor der Verurteilung - also ohne Zwang - hat selbstverständlich niemand aus Sorge, dass die Zulassungsregeln vielleicht gemeinschaftsrechtswidrig sein könnten, ein seit Jahrzehnten tabuisiertes Herzstück der österreichischen Hochschulpolitik abgeschafft. Niemand hätte das verstanden.

Jetzt, erst, in Folge der Verurteilung, war schnelles Handeln geboten: Am Tag nach der Urteilsverkündung haben wir dieser Verpflichtung auch entsprochen..

Andere meinen, man hätte längst eine "europäische Lösung" anstreben, also mit Europa verhandeln sollen: Mit welchen Verbündeten eigentlich? Und zu welchem Zeitpunkt? Während des laufenden Verfahrens vor dem EuGH - wäre das nicht dem Eingeständnis gleichgekommen, eine Niederlage zu erwarten? Oder vor Beginn des Verfahrens - verbunden mit der Selbstbezichtigung, wahrscheinlich ein gemeinschaftswidriges Zulassungsrecht zu haben? Und mit der Intention, Mobilität nach Österreich einschränken zu wollen, während die EU gleichzeitig mit großem Erfolg die Förderung europäischer Mobilität betreibt und der Europäische Hochschulraum, an dem bereits 45 Staaten mitwirken, sich entwickelt? Oder verbunden mit der Forderung nach "Ausgleichszahlungen" für die NC-Flüchtlinge aus anderen Ländern, wie das von verschiedenen Seiten verlangt wird, um damit einen für Österreich völlig unnötigen Ausbau der Universitäten zu betreiben sollte, damit alle Österreicher jeden Studienplatz ihrer Wahl bekommen?

In Mode sind auch wohl klingende Ratschläge gekommen, die eine Bevorzugung der Österreicher zum Ziel haben: Kostendeckende Gebühren, verbunden mit entsprechend hohen Stipendien für Inländer oder Zulassung in Abhängigkeit von mehrjährigen Steuerleistungen in Österreich beispielsweise. Mit solchen vermeintlichen Patentlösungen würde aber erst recht wieder gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Die Begründungen für die Diskriminierung von Nicht-Österreichern wäre sachlich sogar schwächer und plumper als im inkriminierten Recht.

Man dürfte sich daher nicht wundern, wenn die Europäische Kommission in einem solchen Fall beim EuGH eine kurzfristige Verfügung zu erreichen versuchte - eine mehr als peinliche Situation für Österreich als Mitglied der Präsidentschaftstroika oder während der EU-Präsidentschaft!

Selbstverständlich wurden auch alle Möglichkeiten einer sachlich vertretbaren Ungleichbehandlung geprüft. Das geltende EU-Recht sieht eine solche Möglichkeit aber im Bildungsbereich nicht vor.

Fragwürdige "Gerechtigkeit"

Die Forderung schließlich, zusätzliche Studienplätze zu schaffen, damit alle Österreicher das von ihnen gewählte Studium betreiben können, scheint zwar auf den ersten Blick Gerechtigkeit zu versprechen. Aber man müsste, um EU-rechtskonform zu bleiben, zusätzliche Plätze auch für die gleich zu behandelnden NC-Flüchtlinge vor allem aus Deutschland schaffen, deren Zahl die der Österreicher übertreffen könnte. Und dies wäre dem österreichischen Steuerzahler gegenüber sehr ungerecht. Die solcherart aufgebrachten zusätzlichen Mittel für die Universitäten könnten viel besser eingesetzt werden. Überdies wären Finanzierung und schnelle technische Realisierung einer solchen Maßnahme wohl nicht im Bereich des Möglichen.

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Selbstverständlich ist die Gesetzesnovelle nicht über Nacht entstanden. Sie ist eine der vorbereiteten Folge-Handlungen für eines der möglichen Urteile des EuGH. Und sie entspricht dem Konzept der autonomen Universität, die staatlich finanziert wird.

In der Novelle gibt es eine Vorschrift, die die Zahl der Aufzunehmenden, oder derer, die nach einer Einführungsphase weiterstudieren können, regelt. Die Verfahren der Auswahl der Geeigneten bestimmen die Universitäten selbst. Dies ist nicht ein Abschieben der Verantwortung oder die "Erzeugung von Chaos", wie manche, die sich öffentlich zu Wort melden, meinen. Zuständigkeit und Verantwortung sind dort angesiedelt, wo die sachliche Kompetenz besteht. Unsere Universitäten wollen dies so und sie sind dabei in guter Gesellschaft von Universitäten, die Tradition in der Auswahl ihrer Studierenden haben oder diese Aufgabe erst kürzlich übertragen erhielten.

Die Auswahlverfahren müssen sachlich angemessen und gerecht sein, dürfen also weder nach Staatsbürgerschaft noch sozial diskriminieren.

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Angesichts der großen Zahl deutscher Studienwerber, ist die Verdrängung österreichischer Bewerber wahrscheinlich. Die ersten Inskriptionen oder Voranmeldungen in diesem Sommer bestätigen dies. Freilich weiß man nicht, ob ein anhaltender Trend entsteht, oder ob es sich um ein nur kurz andauerndes Phänomen handelt.

Beiderseitiger Lernprozess

Jetzt geht es daher darum, der EU-Kommission fortlaufend zu zeigen, welche Auswirkungen ihre Klage beim EuGH auf das österreichische Bildungswesen hat. Wenn das Gericht schon nicht die von Österreich aufgezeigten möglichen Folgen einer Verurteilung - Zwang, den offenen Hochschulzugang abzuschaffen und überproportional viele Deutsche in einigen Studien - als nicht ausreichend überzeugend befand, dann besteht zumindest hinreichend Grund zur Annahme, dass die EU-Instanzen angesichts der realen Folgen zu einer neuen Einschätzung kommen.

Umgekehrt wird man auch in Österreich lernen, dass der allgemeine freie Hochschulzugang zwar

a) eine schöne Sache ist,

b) im Laufe der Jahrzehnte aber an realer Bedeutung verloren hat, und

c) als Unikat im EU-Verbund immer weniger Sinn macht, je stärker unsere Universitäten als attraktive und konkurrenzfähige europäische Akteure auftreten.

Das Ergebnis dieser Lernprozesse wird wohl nicht dem vorliegenden EuGH-Urteil gleichen, aber vielleicht auch nicht dem österreichischen Rechtszustand vor diesem.

Fazit: Es gibt keine "Krise der Universität", von der manche Politiker und Redakteure reden und schreiben. Wenn es Anzeichen für eine "Krise" gibt, dann jene, dass manche die europäische Entwicklung nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. (DER STANDARD-Printausgabe, 10.8.2005)