António Lobo Antunes oder die Lasten zweier Leben: Der Romancier arbeitete lange als Psychiater.

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Als "Dichter zu Gast" fungiert ab Donnerstag bei den Salzburger Festspielen der portugiesische Romancier António Lobo Antunes: ein Balzac nicht nur des lusitanischen Moderne-Schocks. Der Europäische Staatspreisträger von 2000 schreibt die Romanpartituren der Neuzeit.


Salzburg - Die Hoffnung, die der portugiesische Romancier António Lobo Antunes, der im September 63 Jahre alt wird, in seinen drei Halbdutzend Werken wider alle staatsbürgerliche Vernunft ausstreut, läge in den Kindern: im gemeineuropäischen Fortleben erwachsen gewordener Demokraten, die, wie es die Politik und deren Agenturen so gerne ausstreuen, uns aus den katholischen Gründen agrarischer Rückständigkeit das Wunder fortgesetzten Wachstums überzeugend vorleben.

Portugal wäre ein Erfolgsmodell, das uns Stichhaltiges zum multikulturellen Bescheidwissen eintrichtern kann. Sein kulturelles Kapital läge im Wahrnehmen jener Optionen und Chancen, die die Geschöpfe der Diktatur António Salazars eigentlich zu staatsbürgerlichen Höchstleistungen antreiben müsste.

Der heutige EU-Partner Portugal war, was gerne vergessen wird, bis Mitte der 70er-Jahre der letzte koloniale Völkerkerker: ein fundamental christliches Land, das seine begabtesten Kinder nach Angola und Mosambik schickte, um vor Ort das ausgedörrte Brachland auszupressen - um die Scham vor der eigenen autoritären Rückständigkeit unter Palmblättern zu verstecken und die eigenen Hitzewallungen mit absichtsvoll angebahnten Drogenräuschen zu absorbieren.

Die Kinder der portugiesischen Demokratie haben, wenn sie in den Romanen Lobo Antunes' zu Wort kommen, das Schlimmste bereits hinter sich gebracht. Sie bewegen sich durch die lebensweltlichen "europäischen" Ausläufer einer radikal unbarmherzigen Diktatur mit der Traumsicherheit von Halbwissenden.

Antunes-Romanen fehlt alles Versöhnliche, was angelsächsische Romanstudien, wie diejenigen von Jonathan Franzen, so elend ausgedacht, so erbärmlich altklug aussehen lässt. In ihnen schwatzen die Stimmen der Alten wie der Jungen kakofonisch, aber nie chaotisch durcheinander. Der jahrzehntelang praktiziert habende Psychiater Antunes ist der wahrscheinlich letzte Erbe einer Moderne, die sich in ihren einschlägigen Romananzeigern mit der Herstellung von "Totalität" abgibt.

Keine Besserwisserei In solchen Hervorbringungen gibt es keinen auktorialen Besserwisser. Der Autor regelt lediglich die Frequenzen, auf denen das "überkommene", verbrecherische Gedankengut empfangen wird. Die erotisch umtriebigen Betschwestern und impotenten Diktaturzuträger, die sich häufig als Transvestiten verkleiden, liegen schweißtriefend in posttotalitär durchgerittenen Betten.

Sie riechen nach Kampfer und Lavendel und bürden ihren "modernen" Kindern wie Kindeskindern den Mief überkommener Anschauungen auf, der durch die Bars weht, die - mit Sichtluke auf den Schicksalsfluss Tejo - als Schwefelbrandherde, als Glutnester eines Fegefeuers nicht einbekannter Schuldzusammenhänge gelten können. Antunes, der Urheber so überragender Romane wie Der Judaskuss oder Die natürliche Ordnung der Dinge, lebte jahrzehntelang ein eher unausgewiesenes Poetenleben. Praktizierte, nach angolanischem Militärdienst, als Doktor der Psyche, der sich freistellen ließ und auf schön kariertem Papier seine poetisch verklausulierten Todesfugen händisch niederschrieb. Die Tatsache, dass ihm der vergleichsweise leichtgängige Landsmann José Saramago als Nobelpreisträger vorgezogen wurde, soll er unwirsch kommentiert haben. Den Fádo der portugiesischen Selbstüberprüfung singt nur er.

Antunes, seit heute Gastautor der Salzburger Festspiele, bildet einen logischen, ja notwendigen Kontrapunkt zu John M. Coetzee: Er gewinnt den unspektakulären Brandherden "seiner" Portugiesen eine unerhörte, knisternde Musik ab. Er betrachtet die Leibwäschestücke eines untergehenden Bürgertums mit dem kalkulierenden Interesse eines bockigen Dienstmannes, der zum Gehirnwäscher taugt. An ihm hat die Literatur eine Art Balzac: einen Kulissenbaumeister, der das verschandelte Paris des Bürgerkönigs gegen ein zerfallendes, mit sich selbst überworfenes Lissabon eingetauscht hat.

Nichts ist berührender als die Untergänge der Kinder: U-Boot-Gesänge einer im Schmutz der Eltern verhedderten Generation! In Salzburg liest am Donnerstag Burg-Chef Klaus Bachler im Schauspielhaus aus dem noch unveröffentlichten Roman GUTEN ABEND ihr Dinge hier unten; der Dramatiker Albert Ostermaier stellt sich mit einer Hommage ein. Am Freitag hat eine Petitesse nach Der Judaskuss (Regie: Tina Lanik) ebendort Premiere (jeweils 20 Uhr). (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.8.2005)