Québec - Schon die komfortablen Kulturtempel in den Zentren der großen kanadischen Städte widersprechen dem europäischen Klischee der "Kulturlosigkeit" Nordamerikas: Der Kulturkomplex im Zentrum von Montréal verfügt über fünf, das Centre National des Arts in Ottawa über drei Säle für Opern-, Theateraufführungen und Konzerte.

Die Bespielung dieser Theater hängt allerdings zu einem erheblichen Maße von Eigeneinnahmen und Sponsorgeldern ab. Dies gilt insbesondere für die anglokanadischen Provinzen. Denn die Bühnen in Montréal und der übrigen französischsprachigen Provinz Québec erhalten mehr staatliche Unterstützung als die Theater der übrigen Provinzen Kanadas zusammen.

Im französischsprachigen Teil Kanadas ist ein System der Kulturfinanzierung entstanden, das etwa mit den Benelux-Staaten vergleichbar ist. Die Szene floriert. Ihr Fokus ist die Biennale des Festival Théâtre des Amériques (FTA) in Montréal. Erfolgreiche Regisseure wie Robert Lepage oder heuer Denis Marleau präsentieren sich hier wie die junge Québecer Szene.

Kulturelle Offenheit Nicht nur in der Vielfalt dieser Szene spiegelt sich, dass Montréal offener ist als viele US-Großstädte. Prostitution ist ein erlaubtes Gewerbe. Eine Produktion des FTA führt als Parcours durch einen solchen Kiez. Ein junges Autoren-/Regiequartett schickt die Zuschauer per CD-Spieler und Kopfhörer individuell durch das bürgerlich wirkende Viertel. Der Audioparcours wird von Spielszenen unterbrochen: Man wird in ein schäbiges Haus gelotst und steht unversehens in einem veritablen Bordell zwei Prostituierten mittleren Alters gegenüber.

Die Autofahrt von Montréal nach Toronto ist für nordamerikanische Dimensionen kurz: sechs Stunden. Sie bedeutet den Transfer in den angelsächsischen Raum. Es finden sich im Umkreis von 150 km gleich zwei Repertoire-Theater, die an Aufwand keinen Vergleich mit den größten Staatstheatertankern scheuen müssen. Beide Kompanien spielen über eine achtmonatige Saison jeweils von April bis November und zeigen mit einem festen Ensemble an Schauspielern jeweils etwa zehn bis 15 Neuproduktionen in 700 bis 800 Repertoire-Aufführungen jährlich.

Das Stratford Festival findet in Stratford/Ontario statt, einem Ort, der einstmals von Siedlern aus Shakespeares englischem Geburtsort gegründet wurde. Die Kompanie hat über 1000 Beschäftigte, bespielt mit 125 Schauspielern vier Theater mit bis zu 1824 Plätzen. Das Jahresbudget beträgt umgerechnet etwa 36 Millionen Euro. Das Shaw Festival in Niagara-on-the-Lake nahe der berühmten Wasserfälle ist etwas kleiner dimensioniert. Budget: etwa 16 Millionen Euro.

Beide Truppen sind künstlerisch stark auf konventionelles Schauspielertheater ausgerichtet. Dennoch kann man sich des Eindrucks einer großen Lebendigkeit des "The Shaw" genannten Festivals in Niagara nicht entziehen. Die Fokussierung des Festivals auf die Werke G. B. Shaws und seiner Zeitgenossen resultiert aus der dezidierten Vorliebe des Festivalgründers.

Leiterin Jackie Davies hat diese Ausrichtung um solche Stücke erweitert, die sich inhaltlich auf die Lebenszeit Shaws beziehen. Im Zentrum des Stratford Festivals stehen demgegenüber die Werke Shakespeares und die Pflege elisabethanischer Tradition. Darüber hinaus programmiert Intendant Richard Monette moderne amerikanische Klassik, Musicals, Familienstücke.

Das wichtigste Theatertreffen der englischsprachigen Szene ist das Magnetic North Festival, das 2005 wieder in Ottawa stattfand. Die Auswahl der Produktionen liegt in den Händen der Gründungsdirektorin Mary Vingoe. Sie präsentiert einen Querschnitt des aktuellen Theaterschaffens: Zuschnitt und Qualität der Aufführungen schwanken erheblich. Bei einem Budget von 700.000 Euro können Produktionen aus Stratford oder Niagara nur die Ausnahme sein. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.8.2005)