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Ein Prosit der Milieustudie: Sandra Cervik als Heurigensängerin Josepha.

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Wien - Auf der langen, abschüssigen Gehässigkeitsstrecke, die das hiesige Kleinbürgertum sozusagen ungebremst in den Hitler-Nazismus rutschte, kam es wohl auch in der gemütvoll aufklärerischen Dramenwelt des Ludwig Anzengruber, gestorben 1889 an einer "Zellgewebsentzündung", vorüber.

Von Zellgewebswucherungen, von wechselnden Entzündlichkeiten auf der langen Rutschpartie in den Abgrund der Sittlichkeit handelt das Volksdrama "Das vierte Gebot", ein ungebetenes Fundstück des Wiener Theaters in der Josefstadt. Mit viel Freundlichkeit ließe sich eine Nähe zu Ödön von Horváth mehr noch behaupten als ernsthaft belegen. Aber wo dieser Angstsprachlöcher aufreißt, aus denen die Stille wie eine Ungeheuerlichkeit heraufdringt, da legt Anzengruber lieber gleich alle soziografisch erfassbaren Tatsachen auf den aus Milieuholz geschnitzten Kleingewerbetisch.

Die Eltern, verelendete Drechsler, sind echte Säufer. Die Mutter (Elfriede Schüsseleder) zur Wollust begabt, die Tochter (Sandra Cervik) mit Sinn für die Promiskuität ausgestattet: Da muss der saubere Herr Sohn und Bruder (Alexander Pschill), ein in den Soldatenrock gesteckter Heißsporn mit einer Art würgenden Schüchternheit, natürlich auf die schiefe Bahn geraten.

Drei Familiengeschichten hat Anzengruber mit Sinn für Gleichgewicht in den Klassenverhältnissen ineinander verwoben. Auf Rolf Langenfass' wenig formschöner Pressplattenbühne, auf deren zentraler Kulisse ein wandhohes Kreuz aufglimmt, erlebt man allerlei elterliche Versagens- und Verdachtsmomente. Mit Figuren aus der missfarbenen Zentralmottenkiste für amtliche Elendsdarstellung.

Mit Hausmeistern (Toni Slama), deren verkniffener Mund unter der Rotzbremse die kleinbürgerliche Unfähigkeit zur lustvollen Lebensbewältigung unter Wert beglaubigt. Mit der anbiedernden Idee, vor den filmisch geschnittenen Szenen HipHop von Eminem tuckern zu lassen - weil dieser Schlingel bekanntlich seine Mutti für das manifeste Elend seiner Jugendtage verantwortlich macht. Das Josefstadt-Theater ermahnt sich schüchtern zur Modernität. Woraufhin der designierte Direktor Herbert Föttinger Anzengruber inszeniert, als wäre der Dichter Jugendbeauftragter in den qualmenden Banlieues zwischen Vösendorf und Stockerau.

Wenn nun diese insgesamt blasse Arbeit ein paar Mal zündet, so liegt das an einer Reihe von Details. Es sind bekanntlich Heiratsfragen, an denen das Gebot der bedingungslosen Elternliebe zuschanden geht. Ein Rentierehepaar (Franz Robert Wagner, Linde Prelog) verhökert die Tochter (Maria Köstlinger) an einen Kapitalistensohn (Franz Tscherne), der sein Eherecht als Vergewaltiger in Reitstiefeln ausübt.

Das Verrutschen der Verhältnisse, angetrieben von der lässlichen Kirchenkritik an einem selbstgefälligen Pfarrer (Florian Teichtmeister), kommt jeweils vor und nach den Kulminationspunkten zum Tragen: So, wenn die Eltern die Köpfe ihrer Kinder tätscheln - mechanische Gesten am Rande der Wahrnehmbarkeit, imstande, das deprimierende Getriebe der ehehygienischen Unglückskonventionen an die Wand krachen zu lassen. Stattdessen kommt es eben, wie es die Verhältnisse heischen. Die wunderbare Elfriede Ott, eine strohhaarige Großmutter als mythische Figur, liest den Erniedrigten und Beleidigten die Leviten.

Föttinger hat ein Werk des Übergangs inszeniert. Eine eigene Handschrift wird er finden müssen. Ansatzpunkte für eine vertiefende Weltbetrachtung wären vorhanden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9.12.2005)