Noch immer schwärt die europäische Wunde auf dem mörderischen Balkan. Und finster sind die Aussichten – die rabiate, aber kluge Neujustierung eines "Volksstücks".

Hamburg – Im Hotel "Zur schönen Aussicht" hängt "eine mächtige alte Karte von Europa" an der Wand. So verlangt es der mitteleuropäische Dramatiker in seiner ersten Regieanweisung. Die vielen kleineren und größeren verschiedenfarbigen Flecken darauf vermitteln prima vista den Eindruck eines ohnmächtigen alten Europa, das zwar ein buntscheckiges, aber kein harmonisches Bild von sich abgibt. Die Karte dient auch bloß als behelfsmäßige Wanddekoration, um einen nicht abwaschbaren Blutfleck zu verdecken. Er erinnert daran, dass sich Europa hier in den Mund geschossen hat.

Wie sein Kärntner Landsmann Peter Handke empfindet offenbar auch der Regisseur Martin Kusej den Balkan als nicht heilende, schwärende Wunde, an der sich Europa die Auszehrung holt. Der auf dem Balkan geborene und aufgewachsene Ödön von Horváth lässt in seiner 1926 entstandenen "Komödie" Zur schönen Aussicht den desillusionierten Blick über untergegangene, brachliegende Abendländereien schweifen. Er tippt ganz leicht an die dort noch herumstehenden Reste einer einstmals in einer imperialen Idee scheinbar fest verankerten mitteleuropäischen Kulissenwelt. So bringt er zum Einsturz, was nach dem großen Sturm noch übrig blieb.

Das menschliche Treibgut dieses Sturms ist ins Hotel "Zur schönen Aussicht", "gelegen am Rande eines mitteleuropäischen Dorfes", geweht, wo unter der Landkarte des einst mächtigen alten Europa das Überleben trainiert und jahrhundertelange aristokratische Hochnäsigkeiten als sexuelle und materielle Abhängigkeiten in die Gegenwart verlängert werden. In dieses falsche Idyll lässt Horváth, wie vom Paradiese her, einen Engel schweben, der Erlösung durch den einzigen Gott verspricht, an den man hier noch glaubt: Mammon. Weil dieser Gott aber Kredite nur in der Währung Mitleid zu vergeben scheint, platzt das Geschäft, das sich erst als lukrativ herausstellt, wenn es zu spät ist.

Martin Kusej verlagert im Hamburger Schauspielhaus Mitteleuropa weit nach Südosten, irgendwo in die Berge über Sarajewo. Der Sturm der jüngsten Kriege pfeift gleich zu Beginn mächtig durch den von Annette Murschetz gebauten Luftschutzbunker, und er weht sicht- und hörbar von der Hölle her. Wenn draußen dröhnend die Granaten einschlagen, flackert drinnen das Licht. Ein Kriegskrüppel schmeißt die Krücken weg und jagt sich eine Kugel in den Mund. Eine Heldentat kriegswirtschaftlicher Vernunft, denn Krücken werden noch gebraucht, der Mann nicht.

Ramponierte Zeichen

Der mit Müll übersäte rote Teppichboden wirkt wie das ramponierte letzte Hoheitszeichen, das an die großen Zeiten erinnert, als man selbst den Herrn über Leben und Tod spielen durfte. August Diehl gibt mit zurückgekämmtem Haar den Hoteldirektor Strasser als nervösen Jung-Karadzic, den die früheren Geschäfte mit dem Abgesandten des internationalen Kriegsverbrechertribunals nicht in Sicherheit wiegen, selbst wenn der gepflegte Anzugträger (Klaus Rodewald) vielleicht doch nur Vertreter einer Sektfirma ist. So oder so: Der Mann hat noch eine Rechnung offen.

Das verbindet ihn mit allen anderen, die sich um das offene Feuer hocken, um den äußeren Wechsel von Tag und Nacht hier drinnen ein wenig fürs Gemüt zu simulieren. Aber während die Männer allerlei hypothetische Außenstände eintreiben wollen, zahlen die beiden Frauen bar.

Ute Hannig hat als lüstern-verwelkte Aristokratin mit rechter Beinprothese den Betrieb bisher alimentiert. Der blonde Engel Christine, den Lavinia Wilson als ewig lächelnde gute Fee aus einer besseren Welt einschweben lässt, zeigt sich sogar erbötig, ihre unverhoffte Erbschaft in die Bunkerwirtschaft zu investieren, wofür sie nur eine Sicherheit verlangt: ein bisschen Liebe. Aber Liebe hat man hier schon lange nicht mehr im Angebot.

Das alles ist, wie meistens bei Kusej, klug gemacht und klüger noch gedacht. Im heruntergekommenen Hotel Europa sind die Aussichten nicht mehr schön, wenn die Kriegsverbrecher von gestern sich in ihre Bunker verziehen und, Pistole griffbereit in der Hose, wie Schläfer auf ihren nächsten Einsatz warten. Nur die Aussichten auf Geschäfte ändern sich im fensterlosen Refugium nicht. Irgendwer bezahlt immer, mit Bein, Vermögen oder mit seinem Leben. Das ist nicht von Horváth, aber von heute. Und wo die Vorlage nicht zu den eigenen Vorstellungen passt, wird sie passend gemacht. Diesmal hat Kusej öfter rabiat nachjustiert. Aber Bunker und Untergang, das passt immer. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.2.2006)