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Arno Geiger: "Zur Masse gehört immer einer mehr. Dieser eine sollte jeder sein."

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Es ist schwer zu sagen, was hier und heute bedeutsamer ist, daß ich ein neuerdings erfolgreicher Schriftsteller bin oder daß ich auf den Brettern dieses Hauses während siebzehn Saisonen Bühnenarbeiter war, einer im Maschinenraum dieses Theaters, einer derer, die man nicht sieht und auch nicht sehen soll.

Susan Sontag antwortete auf die Frage, was einen Schriftsteller ausmache: Er solle die Sprache lieben, um das richtige Wort ringen. Und aufmerksam sein für die Welt. Aufmerksam sein für die Welt kann man besser, wenn man selbst nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Vielleicht kann man überhaupt nur das eine oder das andere, sehen oder gesehen werden – das Gesehenwerden ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit, die einen ganz in Anspruch nimmt.

In kurzen Hosen unter der schwarzen Kutte des Bühnenarbeiters, in der zum Berufsbild des Bühnenarbeiters gehörenden Unsichtbarkeit besaß ich eine unvergleichlich größere Wahrnehmungsfreiheit, da besaß ich die Möglichkeit, das Geschehen um mich herum in einem Zustand weitgehender Unbefangenheit zu betrachten, in der Geborgenheit des Verborgenseins. Die Kelten sind überall, man sieht sie bloß nicht.

Das war ein Ausspruch der Römer - er gilt auch beim Theater für die Techniker und Technikerinnen im Unter- und Hinterbühnendunkel. Er gilt nicht zuletzt in diesem Moment. Denn daß man etwas nicht sieht, heißt keineswegs, daß es nicht da ist.

Wenn ich vom Verborgensein spreche, dann tue ich das, ohne zu vergessen, daß nur derjenige die Öffentlichkeit erreicht, der bereit ist, seine Person dem Wagnis der Öffentlichkeit auszusetzen: sich zu offenbaren. So steht heute doch mehr der Schriftsteller vor Ihnen als der langjährige Bühnentechniker.

Trennen kann man eins vom anderen ohnehin nur schwer, ich bin auf der Seebühne – wenn Sie so wollen - aufgewachsen, ich bekam es hier erstmals hautnah mit der Welt der Kunst zu tun. Ich erinnere mich, als ich mit achtzehn Jahren hier anfing, es wurde die Zauberflöte gespielt, sagte ein Vorgesetzter zu einem ebenfalls sehr jungen Kollegen und zu mir (er meinte es augenzwinkernd): Macht eure Arbeit, laßt euch nicht ablenken von den Scheinwerfern und dem Jubel und vergeßt eins nicht, noch vor hundert Jahren hätte kein anständiger Mensch einen Künstler, geschweige denn eine Schauspielerin über seine Schwelle gelassen.

Ich nehme nicht an, daß ich deshalb Künstler geworden bin - der erwähnte junge Kollege wurde Apotheker. Aber alles, was geschah, war wichtig, und alles geschah, um uns zum Nachdenken zu bringen. Nachdenken heißt kritisch denken, heißt Überzeugungen unterminieren, heißt versuchen, Dinge aus dem Schatten zu ziehen, sie bloßzustellen im guten Sinn des Wortes, ihnen ihre Masken abzustreifen, Schicht für Schicht. Das Herunterreißen der Masken ist Aufgabe der Kunst.
Kunst macht sichtbar, sagt Paul Klee.

Ein Mensch, der weiß, daß er gesehen wird, ist auf entscheidende Weise – es hat mit Unschuld zu tun – befangen, er legt seine Masken an, er trägt dick auf, er versucht, auf eine bestimmte Art gesehen zu werden. Man macht sich passend. Ein Mensch, der gesehen werden will und weiß, daß er gesehen wird, inszeniert sich. Meist hat er kein offenes Gesicht und selten einen offenen Blick, es sei denn in der Welt des Vertrauens, in der wir sein wollen, in der wir aber nicht sind, weil ein gewisses Mißtrauen gegen die lauernden Kelten des Alltags zu den menschlichen Grundgefühlen gehört. Trotzdem lassen wir uns anschauen, erwidern wir den Blick, geben wir uns immer auch ein wenig preis. Wir verführen und sind verführbar.

Unsere Aufmerksamkeit ist ein begehrtes und umworbenes Gut. Wir sind Zielgruppe. Unsere Aufmerksamkeit ist dem Wettbewerb ausgesetzt, dem ständigen Versuch, sie auf etwas zu lenken. Unsere Aufmerksamkeit IST gelenkt. Wer schaut, übergibt seine Lebenszeit ins Teileigentum dessen, der angeschaut wird, wer schaut, konsumiert, wer konsumiert, steigert den Marktwert eines Produkts oder einer Person. Das Produkt wird Kult, die Person prominent, selbst wenn sie keinerlei Verdienst vorzuweisen hat, nur das Kapital der vielen Augen, die auf sie gerichtet sind.

All diese hungrigen Sternchen im Rampenlicht, die sich bei genauerem Hinsehen als Entenfußabdrücke im schlammigen Untergrund der Massenmedien erweisen, all diese geltungssüchtigen Charaktere, die unsere Kinder küssen und deren Hauptanliegen darin besteht, im Bilde zu sein, dies im schlechten Sinn des Wortes - es geht ihnen nicht ums Verstehen, sondern ums Ansehen und Aufsehen, ums Angesehen Werden, damit sie Meinung oder Geld machen können oder beides zugleich. Das Wohl des Gemeinwesens haben sie nicht oder nur beiläufig im Auge, umso mehr sich selbst. Man schaut hin, man denkt sich nicht viel, vielleicht, daß nicht jede Einfalt heilig ist und nicht jede Komödie göttlich. Doch das ist unzureichend. In einer sich den Gesetzen des freien Marktes ausliefernden Gesellschaft heißt sehen kaufen und gesehen werden verkaufen.

Schauen ist Schauen ist gedankenloses Wahrnehmen. Sehen in einem tieferen Sinn heißt, hingeschaut und das Geschaute gedeutet zu haben. Jemanden ansehen, ihn als Person ansehen und über ihn nachdenken, bedeutet, daß man sich ihm annähert, sich in ihn hineinversetzt und sich somit für einen Moment der Möglichkeit aussetzt, so zu sein wie er. Ich, das ist ein anderer, sagt Rimbaud. Ich bin nicht du, sagt der Hausverstand. Es sind tatsächlich zwei unterschiedliche Dinge, ob ich über den eigenen Schmerz rede oder über einen fremden.

Doch ein Austausch zwischen Menschen kann nur dann sinnvoll sein, wenn man den eigenen Blickwinkel mit dem des Gegenübers für einen Augenblick vertauscht und den fremden Blickwinkel mit dem eigenen in Beziehung setzt. Nur wer in der Lage ist, sich selbst mit den Augen des Anderen und den Anderen mit dessen eigenen Augen zu sehen, kann sich unvoreingenommen auf die Wirklichkeit einlassen und sie in ihrer Vielschichtigkeit deuten. Vorurteile machen die Augen fett. Eine Flut konfektionierter Bilder macht die Augen fett. Partout gesehen werden wollen macht die Augen fett. Genau hinsehen kann einem helfen, leichter zu werden.

Jeder ist be-achtlich, in seiner Unergründlichkeit und Nicht-Wiederholbarkeit, jeder – und sei es nur in Kleinigkeiten – eine Ausnahme von der Regel, singulär in Aussehen, Denken und Empfinden. Dies sei betont angesichts einer Zeit, in der der Einzelne verstärkt zu einem Rädchen im ökonomischen Regelkreis degradiert werden soll und in der die Herrschaft der maximalen Rendite den Blick auf das Individuelle und auf die unverzichtbare Solidarität der Einzelnen untereinander zu verstellen droht. Die neoliberalen Wirtschafts- und Finanzgeneräle pochen zwar auf das Recht der Freiheit zu Handeln, verkaufen aber gleichzeitig das Leben der Menschen.

Das Victory-Zeichen der Spitzenmanager ist identisch mit dem Zeichen für eine geöffnete Schere, der Schere zwischen Reich und Arm. Diese Schere droht das Tuch unserer Gesellschaft zu zerschneiden. Nichts geringeres als die Zukunft des Gemeinwesens ist in das Tuch gewickelt. Es ist - allen voran - die Kunst, die die unantastbare Würde des Menschen verteidigen sollte jenseits der Frage nach der ökonomischen Rentabilität dieser Würde. Es ist – allen voran - die Kunst, die mit einer widerständigen, beharrlichen Aufmerksamkeit versuchen sollte, den Weg an einen souveränen Ort vorauszudenken, an dem der Mensch mündig ist und wo er nicht allein gelassen ist mit seinem Leid. Es ist die Kunst, die den Menschen zur Sprache bringen, die das Individuum beim Wort nehmen muß, zum Beispiel eines der fünfzehntausend, die in den letzten zehn Jahren zwischen Afrika und Europa ertrunken sind, in der Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben. Zur Masse gehört immer einer mehr als man denkt. Dieser eine sollte jeder sein.

Verehrte Damen und Herren - - jetzt habe ich noch eine Liebeserklärung zu machen: An die Seebühne, auf der ich siebzehn Sommer meines Lebens verbracht habe, mit ihrem speziellen Witterungscharakter, wo auf nichts Verlaß ist außer darauf, daß es um halb neun am Abend aufhört zu regnen, an diesen Ort, über dem die Berge stehen in dünnem Blau wie Engel über den menschlichen Nöten, mit dessen sämtlichen Wassern ich gewaschen bin, freiwillig und unfreiwillig, wo die Vögel nicht aufhören zu singen, weder am Tag noch bei Nacht. Die Erbsünde, wenn es sie je gegeben hat, tangiert dort niemanden. Sogar diejenigen, die wochenlang nicht nüchtern werden, behalten dort ihren klaren unergründlichen Blick. Dort findet jeder einen Beweis für seine Besonderheit, auch im Dunkeln.

Dort weiß man, daß die eine Choristin Liebeskummer hat und die andere unter Heimweh leidet, nach Moskau oder nach Petuschki. Und auch der Chorleiter hat Liebeskummer. Der Dirigent hingegen scheint glücklich. Der Bühnenarbeiter sitzt im Dunkeln wie das verlorene Mädchen im Wald und hat Vertrauen. Das Summen und Sirren der Scheinwerfer klingt normal, und auch mit dem Ton scheint alles in Ordnung. Die Musik tröstet den Arbeiter, während sich auf der Bühne und im Leben Tragödien ereignen. Auch das Buch tröstet ihn, das er zuweilen auf den Knien hat, einige Zeilen beleuchtet vom Kegel der winzigen Taschenlampe, grad so, als schaute da einer dem lieben Gott durch einen Vorhangspalt zum Fenster rein. Kafka schreibt: "Es ist Unrecht über den Helden zu lächeln, der mit der Todeswunde auf der Bühne liegt und eine Arie singt. Wir liegen und singen jahrelang." Das ist während der Vorstellung, im Stand der Unsichtbarkeit.

Der Bühnenarbeiter weiß, er muß einsehen, daß er nicht eingesehen werden darf. Er weiß, die Kelten sind überall -. Doch nach der Vorstellung tritt auch er hervor, er enthüllt sich ein wenig, er ist zerzaust, manchmal schmutzig, manchmal verschwitzt und stinkend (als Zeichen seiner Unabhängigkeit). Er hängt seine Kutte an den Haken und ermöglicht jetzt jedem, der sehen kann und sehen will, Einsicht: Einsicht darauf, daß auch dieser Mensch nicht davon ausgeschlossen ist, ein Einzelner zu sein mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Gedanken. Kann sein, daß gerade niemand hinsieht.

Liebe Freunde im Dunkeln, ich kann euch in diesem Moment nicht sehen, aber Ihr seht mich. Ihr werdet mir erzählen, was Ihr gesehen habt. Herzlichen Dank für die schönen Jahre. Und Ihnen, verehrte Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, dieses so wertvolle Gut, das vor Verschleuderung bewahrt werden soll. Ich wünsche Ihnen und Euch allen eine wunderbare Saison. (DER STANDARD, Printausgabe vom 20.7.2006)