Buchcover: Diogenes
Eigentlich wollte er nur ein Kreislauftherapeutikum entwicklen. Doch was Albert Hofmann 1943 in den Labors des Pharmakonzerns Sandoz entdeckte, brachte nicht den Kreislauf, sondern die ganze Welt in Schwung: LSD wurde zum Glücksversprechen für Bewusstseinserweiterungs-Junkies, zum Treibsatz der Hippiebewegung, von den Beatles besungen, von Spießern gefürchtet und von der CIA heimlich bei Verhören benutzt.

Was zum Teufel das mit Martin Suter und seinem neuen Roman zu tun hat? Nun, Suter hat das Buch seinem Schweizer Landsmann Hofmann erstens gewidmet, und zweitens werden Suters Helden mit und ohne Drogenkonsum gern von verstörenden Persönlichkeits- und Identitätsveränderungen heimgesucht. In Small World raubt einem Mann die Alzheimer-Krankheit Alltag und Erinnerung, in Die dunkle Seite des Mondes verschwindet ein Staranwalt nach einem Drogentrip in sich selbst und im Wald, und in Ein perfekter Freund erwacht ein Journalist nach einem rätselhaften Schlag auf den Kopf als ein anderer.

Weil, wenn Suter drauf steht, immer auch Suter drin ist, verhält es sich mit dem Plot in diesem Buch ähnlich. Sonja Frey, eine attraktive, nicht mehr ganz junge, aber auch noch nicht alte Frau hat eine traumatische Trennung von einem Banker aus gutem Haus hinter sich. Forster heißt der Ex, und er befindet sich gegenwärtig in psychiatrischer Verwahrung. Nach der Scheidung war er in Sonjas Wohnung eingedrungen, hatte sie verprügelt und auf sie geschossen. Irgendwann, das weiß Sonja, wird er rauskommen, denn seine Anwälte sind gut. Die Geschichte scheint noch nicht zu Ende.

Als Sonja dann nach einem unfreiwilligen LSD-Trip im Meccomaxx auch noch die Realität wegbricht - sie kann auf einmal Geräusche sehen, Farben fühlen und Formen schmecken - entschließt sie sich, die Stadt zu verlassen und ihren früheren Beruf als Physiotherapeutin wieder aufzunehmen. Die neue Arbeitsstelle kann zwecks Wiederfindung des Seelenfriedens gar nicht weit genug vom rachsüchtigen Ex-Ehemann weg sein. In einem abgelegenen Tal im Unterengadin wird sie fündig. Ein neu eröffnetes Hotel, offenbar mit zwielichtigen Geldern finanziert und mit großem Aufwand renoviert, sucht für den Spa-Bereich eine Masseuse. Die junge und natürlich schöne Hoteldirektorin scheint sympathisch, man ist sich schnell einig.

In der Schweizer Literatur kommt es selten gut, wenn einer oder eine in die Berge geht, das ist in diesem Buch nicht anders. Denn das vermeintliche Glück des Entkommenseins wird schnell einmal zum Albtraum. Die dörfliche Idylle täuscht, die Einheimischen sind dem Hotel gegenüber feindselig eingestellt. Suter lässt ein ganzes Panoptikum von Dorfbewohnern aufmarschieren: der hinkende Holzfäller samt Fernglas, der bekiffte Bauernsohn, der den Absprung in die Stadt erträumte, aber nie schaffte, der verschlagene Sigrist, der wortkarge Wirt usf. usf.

Das Mitte des 19. Jahrhunderts von einem englischen Tourismuspionier stammende Bonmot, in der Schweiz trügen alle Kühe Glocken, damit man sie von den Einheimischen unterscheiden könne, hier passt es. Aber wie dem auch sei, bald schon kommt es zu unheimlichen Ereignissen. Zimmerpflanzen werden vergiftet, Kirchenuhren verstellt und Sonjas Wellensittich getötet. All das scheint mit der Sage "Der Teufel von Mailand" zusammenzuhängen, in der eine junge Frau dem Teufel ihre Seele verkauft. Doch wer ist der Teufel und gegen wen richten sich das Mysterienspiel? Es sei hier nicht verraten, doch der Schluss des Buches ist überraschend und das Schlussbild schön.

Neben den Fragen, wie viele Handlungsstränge, filmische Schnitte und holzschnittartige Charaktere ein Buch eigentlich verträgt, die allerdings jedes Buch des in Ibiza und Guatemala lebenden Martin Suter aufwirft, versucht der Roman auch einige Antworten. Etwa wie das ist mit Schein, Sein und unserer Wirklichkeitserfahrung. Hofmann, der vergangenen Jänner bei guter Gesundheit in seinem Haus auf der Rit- timatte im Jura seinen hundertsten Geburtstag feierte, sagte einmal über die Selbstversuche mit seinem "Sorgenkind" LSD: "Ich erkannte, dass meine ganze Welt auf subjektivem Erleben beruht. Sie ist in mir, innen. Nicht außen - es gibt keine Farben da draußen."

Der Schriftsteller Arthur Koestler verglich LSD einmal mit einem Skilift, um das "richtige" Gipfelerlebnis zu haben, müsse man aber die Qualen des Aufstiegs auf sich nehmen. Sein Freund Aldous Huxley meinte, die Aussicht aber sei dieselbe. Vielleicht verhält es sich mit der Literatur ähnlich. Suter lesen ist wie den Skilift nehmen. Martin Suter, "Der Teufel von Mailand". Roman.
€ 20,50/304 Seiten. Diogenes, Zürich 2006.