Die Talstation als Bedürfnisanstalt: Elfriede Jelineks Drama "In den Alpen" heißt auf Schwedisch "I Alperna" und wanderte als Riksteatern-Produktion durchs Land.

Foto: Urban Jörén

Das Hauptquartier der Riksteatern-Factory im Vorort Botkyrka südlich der Hauptstadt Stockholm.

Foto: Riksteatern

Schweden verfügt mit dem so genannten Riksteatern über ein vorbildliches Theater-Tourneesystem. Dessen Hauptquartier im Stockholmer Süden erinnert an eine Ikea-Filiale.


Stockholm – Die Zerklüftetheit des Landes und eine sozialdemokratische Laune haben es anno 1934 erwirkt, dass mit der Gründung des so genannten Riksteatern (Reichstheater) Bühnenwerke in Schweden fortan auf Räder gepackt und durchs ganze Land geschafft wurden. Heute ist dieses, soweit bekannt, weltweit einmalige Touringsystem von Riksteatern ein auf rund 4000 Vorstellungen pro Jahr angewachsener, riesenhafter Theaterverteiler mit einer entsprechenden Factory im Stockholmer Vorort Botkyrka.

Dass sich hier alles um beinharte Logistik und natürlich Effizienz dreht, daran lässt die unscheinbare, jedem x-beliebigen Konzern zur Ehre gereichende Gebäudefassade keinen Zweifel: ein Universal-Versand der Theaterkunst.

Im Inneren aber rattert die Kunstproduktion. Da biegen Regisseure eiligen Schrittes um die Ecke und fallen Schauspieler mit ebensolchem Tempo in die Kantine ein. Produktionsleiter oder -assistenten hocken vor ungelösten Fragen auf Tylösand, einer Couch. Währenddessen wird im zweiten Stockwerk vom Gehörlosentheater Tyst Teater ein Workshop abgehalten.

Zu Riksteatern gehört neben der klassischen Dramenabteilung auch das weltberühmte Cullberg Ballet sowie weiters ein Kinder- und Jugendtheater, eine Performance-Abteilung und das Södra Teatern für Nichteuropäische Bühnenkunst. Letzteres verfügt – entgegen dem Grundsatz der Mobilität – über ein eigenes fixes Haus im Zentrum der Hauptstadt.

Gleich sieben ganze Theaterräume (Black Boxes) beherbergt der Baukomplex, jeder von ihnen im Mittelbühnenformat. Hier wird geprobt und produziert, bevor das jeweilige Stück auf Wanderschaft durch das an den finnischen Meerbusen geschmiegte Land geschickt wird. Trainingsräume, Bühnenwerkstätten und Lagerhallen liegen an einer 170 Meter langen „Straße“ im Erdgeschoß der Factory. Tina Turner trällert aus dem farbverschmierten Radio in der Malwerkstatt, von deren Galerie aus gerade mit einem langstieligen Pinsel die Zacken einer Königskrone auf einer großen Leinwand gezogen werden. Bröderna Lejonhjärta /Die Gebrüder Löwenherz von Astrid Lindgren?

Jelinek an Gabelstapler

In den an Ikea-Filialen erinnernden Lagerhallen liegt das in Kisten verstaute Bühnenequipment fertig abgepackt und beschriftet parat. Gabelstapelfahrer sind unterwegs, um die LKWs zu beladen. Im heurigen Frühjahr müssen auch Kisten mit der Aufschrift I Alperna dabei gewesen sein, denn da hatte das Kurzdrama In den Alpen der am selbigen Ort zu Nobelpreisehren gelangten Elfriede Jelinek Premiere und wanderte neben den sechzig bis siebzig anderen jährlichen Produktionen in aluverstärkten Einzelteilen bis hinauf bis nach Norrland.

Künstlerischer Leiter von Riksteatern ist seit 1998 niemand geringerer als Lars Norén, der als Dramatiker (Personenkreis 3.1) im europäischen Raum Furore machte. Durch ihn, so erzählt der junge Personalchef Andreas Dahlgren, traut man sich im zeitgenössischen Drama wieder mehr, treibe man in eine provokantere Richtung. Einzelne Produktionen hätten sogar für politischen Gesprächsstoff gesorgt.

Eines sollte aber gesagt sein: Beim vazierenden Betrieb unterliegt die Theaterkunst mitunter auch den Regeln schnöder Praxis: Eine Produktion muss möglichst einfach und schnell auf- und abgebaut werden können, vielfach an bescheidenen Spielstätten. Das Riksteatern wurde erfunden, um alle zu erreichen. Bis zur Kabelrolle und dem letzten Schraubenzieher liefert dafür alles der Truck aus der Zentrale in Stockholm.

Riksteatern ist eine Non-Profit-Organisation, bestehend aus einem Netzwerk von 225 lokalen Gesellschaften. Die jährliche staatliche Subvention beträgt 33 Millionen Euro und ist in einem Land, in dem Sponsoring noch vollkommen in den Kinderschuhen steckt, auch nötig. Wenn man durch die Gangfluchten der gigantischen Kostümwerkstatt wandert, sieht man, was vom Gelde übrig blieb: In endlosen Räumen werden Kleider wie im Bibliothekstiefspeicher gehortet. Da gibt es die Abteilung „Lange Röcke 1800–1939“ oder die Kästen mit dem Schildchen „Brautkleider 20er Jahre“. Die einem gewissen Realismus verpflichtete Theatertradition verlangt auch nach einer Patinierungswerkstätte; hier werden Kleider auf diverse Arten auf alt getrimmt. Eins weiter werkt der „Perukmakeri“ an Mähnen von Echthaar. Im Gang steht als abgelegtes Requisit ein Schwan.

Natürlich wird auch mit dem durch Ingmar Bergmann berühmten Dramaten-Nationaltheater kooperiert oder mit dem von den Wiener Festwochen bekannten Cirkus Cirkör. Hauptaufgabe aber ist die Eigenproduktion. Dass in Österreich so manche Theaterarbeit aufgrund fehlender Tourneestrukturen oft nur vier-, fünfmal gezeigt wird, das versteht hier niemand. (Margarete Affenzeller / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.7.2006)