Wenn die Sonne um 2 Uhr mittags mit so cirka 50° auf den Retzer Hauptplatz brennt, und du grad über einem dieser Lüftungsschächte stehst, die drei Stockwerke ins Erdinnere reichen, dann denkst du höchstens zweimal darüber nach, wo es jetzt wohl schöner, besser, kühler ist. Und folgst brav und fromm der Frau Schadauer, die dir sogleich einen Poncho in die Hand drückt, hinunter in die Retzer Unterwelt.

Der Poncho – oder ein Pullover – ist absolut notwendig, wenn du das in den Sand gegrabene Kellersystem des ehemals größten Weinhändlers der Region, der Firma A. Mössmer, betrittst. Immerhin trifft dich ein Temperatursturz von 30 bis 40 Grad Celsius. Nach eineinhalb Stunden Abkühlung, die mit Orakeln und anderen lustigen Szenen aus dem Wein- und Winzerleben gefüllt sind, kommt ein leichtes Frösteln auf, und du bist froh, endlich dort anzukommen, wo es was G’scheites zu trinken gibt: In der Vinothek der Retzer-Land-Winzer.

Hier bekommst du Kostproben in Weiß, Rot und Weiß, ein quasi patriotisches Gefühl, und schöne Eindrücke von dem, was die Leute in der Region hauptsächlich machen: Wein. Auch wenn die Nachfahren des Herr Mössmer ihr regionales Imperium letztlich etwas skandalträchtig in den Sand – von dem es hier, was man ihnen vielleicht zugute halten muss, nun wirklich genug gibt – gesetzt haben, bauen andere gerade darauf ihre Existenz. Auch wenn es etwas unglaubwürdig, zumindest widersprüchlich klingt, bietet der Retzer Sand nämlich ein durchaus solides Fundament für viele Betriebe.

Das Auge der Dreifaltigkeit

Auf der Landkarte betrachtet stellt sich das Weinbaugebiet Retzer Land so als eine Art Rahmen für das Auge der Dreifaltigkeit dar. Zwar sind die Menschen hier durchaus fromm und gottgläubig – was in Pröll’s own country quasi naturgemäß ist –, aber das Auge Gottes muss man sich schon selber dazudenken. Sichtbar sind dagegen die vielen spitzen Kirchtürme, die Marterln und die auf Säulen gesetzten Heiligen, aber schließlich ist der Wein ja auch die Droge der Kirche. Seit alters her. Drum segnet nicht nur der Landeshauptmann, sondern auch der Bischof und alle Priester des Landes den Rebensaft, so oft es nur geht. Dass an Anlässen für Segnungen kein Mangel herrscht, dafür sorgen die Weinbauern und die Bürgermeister, die praktisch allwöchentlich ein Kellergassenfest, eine Vinotheksgründung oder ein Weinlesefest eröffnen.

Markante Eckpunkte

Die markanten Eckpunkte des vinophilen Dreiecks sind Retzbach im Norden, Haugsdorf im Osten und Pulkau im Westen. So gesehen ist das Retzer Land eigentlich eine eigene geografische und vinophile Einheit, auch wenn der Landstrich weinmäßig gesehen zum ganzen und großen Weinviertel gehört. Obwohl Winzer wie beispielsweise Gerald Diem, der ein 15 Hektar großes Weingut in Obermarkersdorf (Gemeinde Schrattenthal) bewirtschaftet – und, so nebstbei gesagt, wunderbare Weine zu einem „bist-du-deppert-Preis-Leistungs-Verhältnis“ macht – betonen, dass die Initiative „Weinviertel DAC“ viel in die richtige Richtung bewegt hat, bleibt doch der Eindruck, dass sich das Retzer-Land vom übrigen Weinviertel unterscheidet.

Wo Wein wächst, ist die Landschaft ja überall gleich einmal ziemlich schön und das Klima immer besonders freundlich. Retz und seine Umgebung zeichnet darüber hinaus eine sanft geschwungene Freundlichkeit aus, die irgendwie nicht nur auf die Ureinwohner, sondern auch auf die vielen Zuzügler aus der gar nicht so fernen Stadt abfärbt. Man braucht ja nur eine knappe (Auto)Stunde, um aus Wien da draußen zu sein, und schon spürt man den Hauch der Prominenz, der all die vielen Kellergassen und fein rennovierten Höfe umweht. Prominent zu sein heisst bekanntlich, auch über einen grossen Freundes- und einen entsprechenden Kollegenkreis zu verfügen. Das spüren dann die Winzer wie die Wirten wie die Zimmervermieter.

Viel Tradition, wenig Moderne

Wenn du als Ausflügler durchs Land fährst, stellst du gleich einmal fest, dass das ganze weite Land auf einer konservativen Architektur beruht und Neues eher des Teufels ist. Trotzdem spriesst da und dort auch Modernes aus den alten Mauern. Enstsprechend dem Geist der Zeit, der auch vor dem ehedem toten Grenzgebiet zum Eisernen Vorhang nicht halt gemacht hat. Wie überall, wo Jungwinzer auf Reisen gingen und gehen, wollen sie nicht nur den Wein neu erfinden, sondern auch das ganze Drumherum neu aufmischen.

So kommt es, dass in dieser Mini-Toscana, in der die Pappeln die Zypressen ersetzen und der kühle Wind des direkt angrenzenden Waldviertels fruchtig-frische und teilweise sogar nervig-mineralische Weine hervorbringt, neue Akzente gesetzt werden. Gerald und Andrea Diem etwa haben das Glück gehabt, dass ihr Hof in den architektonisch etwas brachialen 60er und 70er-Jahren nicht niedergerissen und im damals üblichen Einheitslook „erneuert“ wurde. Über die letzten zehn Jahre konnten sie so ihr Weingut sensibel und doch modern revitalisieren und haben jetzt einen mustergültigen Hof mit den Qualitäten und allen Facetten eines ästhetischen 3-Hauben-Menüs.

Zeitgemäß interpretiert

Phillip Zull dagegen musste neue Wege gehen. Auch wenn der Umbau derzeit gerade im Gange ist, zeigt der Entwurf jetzt schon, wie die alte Hofbauweise mit dem offenen Hoftor neu und zeitgemäß interpretiert werden kann. Auf die demnächst fertiggestellte Glas-Konstruktion im Eingangsbereich darf man jedenfalls gespannt sein. Modern ist eine Eigenschaft, die auf die Person Zull jr. so zutrifft wie auf seine Weine. Ertragsreduktion bis zum Anschlag (Phillip Zull: „Meine Weinstöcke haben sicher keinen Stress“), penible Selektion und kühle Vinifizierung ergeben Weine mit einer glasklaren Frucht und viel mineralischen Elementen.

Glücksfall Retzbacherhof

Diem und Zull sind aber nicht allein mit ihren Ideen. Eine weitere Lokomitive der Erneuerung ist auch Harald „Harry“ Pollack, der den „Retzbacherhof“ in Unterretzbach revitalisiert und so offen und wie großzügig ausgebaut hat. Ohne zu übertreiben, darfst du den Retzbacherhof als Glücksfall für das Retzer Land bezeichnen. Ländlich solides Küchenhandwerk ist hier gepaart mit einer Weinkarte, die quasi als Weinpfad durch das Retzer Land dienen kann. Hier lerntst du zB das Weingut Klein kennen, indem du einen Veltliner DAC, Ried Wiege, konsumierst, der wie ein frischer Wind aus dem kühlen Waldviertel daherkommt, oder den Urgesteins-Veltliner von Petra Prechtl aus Zellerndorf, mineralisch, pfeffrig und würzig wie ein Wildbach in den Alpen.

Natürlich ist es besser, wenn du einen Termin direkt beim Winzer bekommst. Das ist aber nicht zu allen Zeiten ohne weiteres möglich, schließlich sind die meisten Retzer Winzer – man nehme etwa Norbert Fidesser aus Platt als Beispiel – auch noch Weizen-, Sonnenblumen- und Kürbisbauern. Viel Arbeit also rund ums Jahr, aber die Landschaft dankt es dir. Geometrische Farbteppiche mit goldgelbgrünbraunen Schattierungen erfreuen des Reisenden und Radelnden Auge, und eine Einkehr in der Öhlberg-Kellergasse in Pillersdorf, wo du des Samstagnachmittags ganz allein und etwas verträumt dein Achterl und ein Radieschen-Aufstrichbrot zur Stärkung der Wadeln nimmt, rundet die ganze Retzer-Land-Sache schon sehr ab.

Der Boom kommt erst

„Der Mössmer hat sein Imperium verschustert“, heißt es etwas unverblümt über den ehemaligen Leitbetrieb der Region. Jetzt, wo die Schuster sich wieder auf ihre Leisten konzentrieren, erlebt die Retzer Region einen ungewöhnlichen Aufschwung. Ein Insider, zugereist wie viele Wochenend-Flüchtige aus der Stadt und sehr begeistert von Land und Leuten, sieht die Region derzeit erst in den Startlöchern: „Der richtige Boom wird sich erst in den nächsten fünf Jahren einstellen.“ Und zwar abseits der Julia- und Polt-Vermarktung, in der die Gegend noch irgendwie gefangen ist. Das Zugpferd der Zukunft werden wohl eher, um nicht zu sagen: sicher, die flüssigen Schätze sein, die in den Kellern der modernen Winzer liegen. Mit Letzeren wirst du über Melbourne und San Francisco plaudern oder über den Bregenzer Wald und wie sich dort Architektur manifestiert, und bald einmal auf Du und Du sein. (Vene Maier)