Ein ausgestoßener Titus (Max Mayer) kurz vor seinem Abgang aus dem Salon der "besseren" Gesellschaft.

Foto: Schauspiel Graz

Graz - "Das Vorurteil is eine Mauer, von der sich noch alle Köpf', die gegen sie ang'rennt sind, mit blutige Köpf' zurückgezogen haben", wie der erst 26-jährige, aber schon von den lieben Mitmenschen bitter gewordene Titus weiß. Am Grazer Schauspielhaus war diese Mauer am Samstag - auf den Tag genau 166 Jahre nach der Uraufführung des Talisman - mit Graffiti überzogen. So weiß jeder gleich, dass Nestroy-Routinier Peter Gruber hier den beliebten Stoff vom rothaarigen Outcast in die Gegenwart zu versetzen sucht.

Doch während das Vorurteil nicht ausgestorben ist, und die Gesellschaft natürlich eine geblieben ist, die nach dem Schein und nicht nach dem Sein auswählt, wer nach oben darf, ist das mit dem roten Haupthaar so eine Sache. Deshalb sperrt sich gerade im ersten Bild die Gruppe der punkig gekleideten Jugendlichen, die der herzlich-resoluten rothaarigen Salome das Leben schwer macht, gegen die Logik: Erstens, sind wohl gerade die wenigen Punks, die es heute noch gibt, selbst Außenseiter, zweitens ist das Letzte, was diese wohl stört, ein bunt leuchtendes Haupt.

Doch das sind Details, die nur kurz irritieren. Kaum beginnen nämlich Jaschka Lämmert und Max Mayer als Salome und Titus zu spielen, freut man sich nur noch über die treffsichere Besetzung. Vor allem der Wiener Neuzugang Max Mayer kann in dieser Rolle wirklich zeigen, was er kann. Sein Titus ist kein lustig seine Spaßetteln treibender Hochstapler, sondern ein wütender, desillusionierter junger Mann, der Nestroys Wortwitz wie eine scharfe, verletzende Waffe einsetzen kann.

Die ganze Inszenierung verzichtet auf den - oft fälschlich überlieferten - biedermeierlichen Gemütlichkeitskitsch, sondern zeigt eine abgebrühte, unsympathische Ansammlung von Menschen, in der jeder mit allen Mitteln den eigenen Vorteil sucht. Die geradezu magische Perücke des Titus ist im Vergleich mit den Mitteln anderer geradezu harmlos.

Auch die drei Vertreter der "alten Garde" des Schauspielhauses, Gerti Pall als kühle Pseudoliteratin Frau von Cypressenburg, Ernst Prassel als stichelnder Gärtnereigehilfe Plutzerkern und der schlechte Gedichte aufsagender Gerhard Balluch als Herr von Platt glänzen, ohne die bekannten Figuren mit Klischees aufzufüllen.

Ebenso reizt Alexandra Tichy als resche Gärtnerin Flora, die die Einsamkeit mehr als satt hat, immer wieder zum Lachen. Andrea Wenzl muss als textarme Tochter der Cypressenburg, Emma, so viele Verrenkungen machen und hinter dem Rücken ihrer Mutter Suizide, Kopulationen und andere unschickliche Aktionen andeuten, dass sie in der Salonszene höchst amüsante Übersetzerin des allgemeinen Geschwafels wird.

Ein falsches Happy End gibt es nicht: Als die zwei Ausgestoßenen sich finden, bleibt Titus bitter, und Salome wird zur seiner Trösterin, bevor der Vorhang still herunter fällt. (Colette M. Schmidt/ DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18.12.2006)