Wien - Gesamtschule oder differenziertes Schulsystem in der Mittelstufe: Dieser Punkt könnte zum großen Hindernis einer möglichen Koalition zwischen SPÖ und ÖVP werden. Ein Kompromiss in dieser Frage ist nur schwer möglich - entweder gehen alle Kinder in eine gemeinsame Schulform oder eben nicht. Die ÖVP hat außerdem bereits im Vorfeld klar gemacht, dass sie vom derzeitigen differenzierten Schulsystem nicht abgehen wird.

Getrennte Bildungswege

Gesamtschule oder gemeinsame Schule bedeutet den Verzicht auf differenzierende Schultypen wie etwa in Österreich ab der fünften Schulstufe in Hauptschule und AHS-Unterstufe. Alle Kinder gehen also (wie in Österreich in den vier Volksschuljahren) zunächst in den gleichen Schultyp, eine Differenzierung wird meist nicht mit zehn Jahren, sondern erst mit 14, 15 oder 16 Jahren vorgenommen (also zu dem Zeitpunkt, wo in Österreich bereits die zweite Bildungswegentscheidung - Berufsschule, berufsbildende mittlere oder höhere Schule, AHS-Oberstufe oder Ende der Schulkarriere - ansteht).

Seit 30 Jahren weltweit

Im internationalen Vergleich hat sich spätestens in den vergangenen 30 Jahren die Gesamtschule durchgesetzt. In den USA, Südkorea und Japan besuchen die Jugendlichen etwa bis zum 18. Lebensjahr die gleiche Schulform (Highschool), in England, Dänemark, Spanien, Lettland, Polen, Schweden und Finnland bis zum 16. Lebensjahr, in Norwegen, Frankreich, Slowenien, Estland, Tschechien, Portugal, der Slowakei und Israel bis zum 15. und in Italien, Zypern und Litauen bis zum 14. Lebensjahr. Luxemburg, Irland und die Niederlande trennen die Kinder im Alter von zwölf Jahren, Malta mit elf Jahren.

Deutschsprachige Ausnahme

Nur Deutschland und die Schweiz (mit Einschränkungen auf Grund der regionalen Bildungshoheit) haben ein ähnliches Schulsystem wie Österreich - wobei in Deutschland einzelne Bundesländer eine echte Gesamtschule, andere wiederum neben dem Gymnasium und der Realschule eine - entgegen dem Wortsinn - "Gesamtschule" genannte weitere Schulform eingeführt haben.

Chancengleichheit und Schichtenverteilung

Grundidee der Gesamtschule: Die Kinder sollen nicht zu früh in unterschiedliche Schullaufbahnen "eingeordnet" werden. Derzeit gehen die Kinder von Akademikern überdurchschnittlich häufig in die AHS-Unterstufe, während etwa Arbeiterkinder an den Hauptschulen überrepräsentiert sind. Gesellschaftspolitisch sollen die verschiedenen sozialen Schichten durch eine Gesamtschule besser durchmischt und so Chancengleichheit hergestellt werden. Aus pädagogischer Sicht setzt man in der gemeinsamen Schule statt auf äußere auf eine so genannte innere Differenzierung: Lerndefizite sollen durch individuelle Förderung innerhalb der Gruppe ausgeglichen werden. Kritiker befürchten umgekehrt ein "Herabziehen" der guten Schüler durch die lernschwächeren.

Sowohl halb- als auch ganztags

In der Diskussion damit oft vermischt wird die Frage der Ganztagsschule: Diese bezeichnet nur eine mögliche Verteilung der Unterrichtszeit über den Tag hinweg und hat mit der Frage Gesamtschule oder differenziertes Schulwesen wenig zu tun. Eine Gesamtschule kann sowohl halbtägig als auch als Ganztagsschule geführt werden. (APA)