Matthias Cremer/Standard
STANDARD: Hans Weigel hat einmal in einer Würdigung über Sie geschrieben: "Er ist nur zufällig wieder in Wien: ... Er wollte hier die Fahrt unterbrechen - da hörte er im Rundfunk ein Lied von Alexander Steinbrecher und sagte sich: ,In dieser Stadt könnte man bleiben.' So währt die Fahrtunterbrechung bis heute." War es so? Bronner: Absolut. Meine Schwiegereltern hatten die Emigration in Schanghai verbracht und waren nach Wien zurückgekehrt. Sie wollten mit Recht ihre Tochter wiedersehen, mich und ihren Enkel ( S TANDARD -Herausgeber Oscar Bronner, Anm.) kennen lernen. Und ich hatte ein Engagement in London angeboten bekommen. Meine Frau bestand daher darauf, dass wir über Wien fahren. Ich sagte zu ihr: "Von mir aus, aber ich garantier' dir, länger als einen Monat bleib' ich in dieser Scheißstadt nicht." Wien war im 48er-Jahr wenig einladend: Lauter verhärmte Menschen, enttäuschte Nazis mit schlechtem Benehmen, es gab nicht viel zum Essen. Eines abends dreh' ich das Radio auf und höre eine Sendung vom Alexander Steinbrecher. Und da hab' ich plötzlich eine Art von Wiener Kultur entdeckt, von der ich gar nicht mehr wusste, dass es sie jemals gegeben hatte. Kurze Zeit später lernte ich Steinbrecher und Weigel kennen. Sie bestärkten mich, da zu bleiben. Und so habe ich mein Engagement in London nie angetreten. STANDARD: Dass Sie Musiker, Komponist und Kabarettist werden würden, war Ihnen ja nicht gerade in die Wiege gelegt: Sie sollen eine Lehre als Schaufensterdekorateur begonnen haben. Bronner: Ich war ein schlechter Schüler, sogar ein sehr schlechter. Eines Tags wurde ich in Geometrisch Zeichnen geprüft. Der Lehrer stellte eine Frage, und ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: "Das weiß ich nicht." Auch auf die zweite und die dritte Frage antwortete Ich: "Das weiß ich nicht." - "Ja hast du das denn nicht gelernt?" - "Nein. Weil es mich nicht interessiert." Das war vermutlich die erste ehrliche Antwort, die der Lehrer von einem Schüler gehört hat. Und der Grund, warum ich in der vierten Klasse rausgeflogen bin. Meine Eltern konnten sich das Gymnasium zudem nicht wirklich leisten: Sie mussten, weil ich eben ein schlechter Schüler war, das volle Schulgeld bezahlen. Da meinte mein Vater, es hat eh keinen Sinn. Zufällig war eine Lehrstelle in einem Warenhaus in Favoriten frei. Und so lernte ich bis ins 38er-Jahr, Schaufenster zu dekorieren. Aber ich habe das nie ausgeübt. Hin und wieder denke ich mir mit Schauern: Wäre der Hitler nicht einmarschiert, wäre ich vielleicht Schaufensterdekorateur geworden. STANDARD: Na ja, Sie haben doch schon damals musiziert. Bronner: Soweit ich musizieren konnte. Denn als ich neun Jahre alt war, wurde das Klavier, auf dem ich gelernt habe, gepfändet, weil mein Vater Schulden hatte. Ich konnte also nur musizieren, wenn ich wo eingeladen war, wo ein Klavier stand. Da ich aber ganz gut nach dem Gehör spielen konnte, was die Leute hören wollten, Schlager und solches Klumpert, war ich ein gesuchter Gast. Später kaufte ich mir eine sehr, sehr gebrauchte Gitarre, auf der ich zu zimbeln lernte. Und wenn ich in einem Jugendklub war, spielte ich auf ihr und sang Stanzln dazu, die ich zum Teil schon selbst komponiert hatte. Einige könnte ich sogar heute noch zimbeln. STANDARD: Waren Sie bereits in der Zeit des Austrofaschismus ein politisch interessierter Mensch? Bronner: Als Sechsjähriger hat mich mein Bruder Oskar zu den Roten Falken gebracht. Er war zehn Jahre älter, ein Schulfreund vom Kreisky, und gemeinsam haben sie die SAJ, die Sozialistische Arbeiterjugend, im 4., 5. und 10. Bezirk geleitet. Mein Bruder war auch beim Schutzbund. Ich bin daher durchaus sozialdemokratisch aufgewachsen, ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist. Ich bin zwar nie einer Partei beigetreten und würde es auch nicht. Aber bis zum heutigen Tag ist meine spontane Reaktion, wenn ich mit einem politischen Problem konfrontiert werde, eine sozialdemokratische. Dann erst denk' ich drüber nach. Und hin und wieder ergibt es sich, dass ich mein Urteil revidiere. Denn auch die Sozialisten haben ja nicht immer Recht. STANDARD: Ihr Vater wurde bereits eine Woche nach der Machtergreifung inhaftiert und kam ins KZ Dachau. Warum hat Ihre Familie nicht frühzeitig eine Flucht in Erwägung gezogen? Man wusste doch, wie Hitler in Deutschland agierte. Bronner: Weil mein Vater ein edler Tor war. Er behauptete: "Ich war Frontsoldat im Weltkrieg, ich wurde verwundet." - Er war sogar beim Bund jüdischer Frontkämpfer! - "Ich hab' mein Lebtag kein Verbrechen begannen, mir kann nichts passieren." Dass er schließlich vergast werden könnte, auf die Idee ist er nicht gekommen. STANDARD: Sie hingegen dachten schon bald nach dem Einmarsch an Emigration. Bronner: Ja. Ich wollte legal auswandern, hatte aber keinen gültigen Pass. Ich musste um einen neuen ansuchen, den berühmten deutschen Pass mit dem "J". Aber dazu brauchte ich eine Steuerunbedenklichkeitserklärung. Für diese musste ich mich unzählige Stunden bei der Finanzlandesdirektion anstellen. Der Beamte sagte mir schließlich, ich müsse nachweisen, dass ich meine Steuern bezahlt hätte. Ich antwortete: "Ich bin 15-einhalb Jahre alt, habe kein Einkommen. Von was soll ich Steuern zahlen?" - "Dann muss dein Vater die Erklärung vorlegen." - "Der kann sie nicht vorlegen, der ist im KZ." - "Dann musst halt warten, bis er wieder herauskommt." - "Und wovon soll ich bis dahin leben?" - "Hat dir ja keiner ang'schafft, dass du leben sollst." Das war's. Meine einzige Chance war ein illegaler Grenzübertritt in die Tschechoslowakei, der mir auch gelang. So bin ich der einzige Überlebende meiner Familie. Und das verdanke ich einem Gesetzesbruch. STANDARD: Warum kam eigentlich Ihr Vater, ein kleiner Tapezierer, derart früh ins Konzentrationslager? Bronner: Wie mein Bruder war auch mein Vater ein sehr aktiver Sozialdemokrat. Er hatte am Wiedner Gürtel - gegenüber dem Süd- beziehungsweise Ostbahnhof - ein Geschäft. Einmal in der Woche kam ein Mann mit dem Zug aus Brünn und hatte in seinem Rucksack die Arbeiterzeitung, die dort gedruckt werden musste, weil ja die SP während des Austrofaschismus verboten war. Mein Vater übernahm diese Zeitungen und verteilte sie. Das hat sich natürlich herumgesprochen: Er wurde vernadert. Mein Bruder wurde gleich mit verhaftet, kam ebenfalls nach Dachau - und dort um. STANDARD: Ihr Vater hingegen wurde wieder freigelassen. Bronner: Ja, er kam ein halbes Jahr später aus Dachau heraus. Er schrieb mir nach Brünn, dass es meinen Bruder nicht mehr gibt, erwähnte aber mit keinem Wort, was sich dort abgespielt hatte. Stattdessen schickte mir mein Vater, den ich nur dunkelhaarig kannte, ein Foto von sich: Er hatte schneeweiße Haare. Was ihm in Dachau alles passiert ist: Ich will es gar nicht wissen. STANDARD: Und trotzdem wollte er nicht fliehen? Bronner: Ich schrieb ihm: "Komm doch nach Brünn!" Und er schrieb: "Ich habe nichts verbrochen, ich habe keinen Grund zur Flucht." STANDARD: Sie schlugen sich als Straßenmusikant durch, konnten aber nicht lange in Brünn bleiben. Hitler marschierte im Oktober im Sudetenland ein. Bronner: Und plötzlich war die deutsch-tschechische Grenze nur 14 Kilometer von Brünn entfernt. Die neue tschechische Regierung wies zudem alle Emigranten an, das Land binnen 48 Stunden zu verlassen. Und so bin ich mit einem Freund über Pressburg donauabwärts getrampt, bis ich in Rumänien auf einen illegalen Transport nach Palästina stieß. Im Laderaum des ausrangierten griechischen 600-Tonnen-Frachters, der Draga hieß, befanden sich gut 4500 Flüchtlinge. Dementsprechend waren die Verhältnisse und die Verpflegung. Jeder konnte pro Tag nur eine Stunde an Deck sein, um Luft zu schnappen. STANDARD: Sie passierten Istanbul, landeten in Palästina, konnten - im Gegensatz zu vielen anderen - schon bald von Bord. Wie ging es dann weiter? Bronner: Ich lebte in Netanya, wo das Schiff gelandet war, arbeitete als Deichgräber, pflückte Orangen, zerschnitt die, die nicht exportiert werden konnten, und verfütterte sie an Kühe. STANDARD: Aber Sie wollten weiterhin Musiker werden. Bronner: Ja, das hat mich am meisten interessiert. Ich musste mir jedoch alles selbst beibringen: Ich hab' mir Bücher besorgt und die Harmonielehre studiert. Aber ich hatte ja nicht einmal ein Klavier, nur ein Akkordeon. STANDARD: Haben Sie nicht als Musiker für die britische Armee gearbeitet? Bronner: Ja, die englischen Soldaten, die es in dieser Gegend in rauen Mengen gab, mussten unterhalten werden. Dafür gab es eine eigene Organisation, die zuerst ENSA, später CSE, Combined Service Entertainment, hieß. Ich wurde als Begleiter am Klavier engagiert. Die Show war derart erfolgreich, dass sie laufend erweitert wurde. Zuerst spielte ich allein, dann kam ein Bassgeiger dazu, ein Gitarrist, ein Schlagzeuger, drei Bläser ... Und zum Schluss leitete ich vom Klavier aus ein 24-Mann-Orchester. Einige waren sehr gute Musiker, der erste Geiger zum Beispiel war der ehemalige Konzertmeister der Bukarester Philharmonie. Der hat mir viel beigebracht. Ich hab' also von den Leuten, die ich dirigiert hab', gelernt. STANDARD: Wussten Sie zu jener Zeit schon, wie es Ihren Eltern ergangen war? Bronner: Nein. Ich habe erst nach dem Krieg erfahren, dass sie 1943 nach Minsk transportiert wurden. STANDARD: Sie waren seit 1938 auf sich allein gestellt. Haben Sie darunter gelitten? Bronner: Sie müssen das mit anderen Maßstäben messen. Die Flucht war für mich eine Art Karl-May-Abenteuer. Außer, wenn ich Hunger hatte, das war scheußlich. Und später, bei den Engländern, ist es mir eigentlich schon sehr gut gegangen. Es gab genügend zu essen, auch Fleisch, kein Vergleich zu meiner Kindheit. STANDARD: In Palästina haben Sie Ihre Frau kennen gelernt? Bronner: Nein, die kannte ich schon aus Wien. STANDARD: Eine Jugendliebe also? Bronner: Wenn Sie es euphemistisch ausdrücken wollen, dann war es eine Jugendliebe. Wir waren Verlorene, haben nicht gewusst, wie es weitergehen wird. Vor allem aber: Wir konnten miteinander in unserer Muttersprache kommunizieren. Sie stammte aus einem wohlhabenden Haus und wurde in eine Mädchenschule in der Nähe von Jerusalem geschickt, ist also - im Gegensatz zu mir - völlig legal eingewandert. Irgendwie hat sie erfahren, dass ich in Palästina bin. Sie schrieb mir, wir haben uns dann getroffen, und als sie mit der Schule fertig war, ist sie zu mir nach Netanya gekommen. Als sie achtzehn war, haben wir geheiratet. STANDARD: Das muss 1941 gewesen sein. Bronner: Ja, damit wir uns das Datum merken, wählten wir den 1. Jänner. Wir alle, die wir im Militärdienst standen, mussten damit rechnen, den Krieg nicht zu überleben. Aber die Witwen würden eine Pension bekommen. Und deshalb haben wir geheiratet. Es gab damals ständig Unruhen, es gab Attentate, zum Teil von arabischen, zum Teil von jüdischen Terrororganisationen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Nach dem Krieg lebte ich, weil die Band aufgelöst worden war, in Haifa und arbeitete dort für einen englischen Soldatensender. Es gab ein Archiv mit 16.000 Schallplatten, und ich lernte, Programme zusammenzustellen. Ich konnte mir die Platten anhören, sie miteinander vergleichen, mir meinen Geschmack bilden. Und jedes Monat kam aus London per Schiff eine neue Ladung. Meine Aufgabe war es, mit einem Chauffeur zum Hafen zu fahren und die Platten in Empfang zu nehmen. Einmal aber heiratete ein Freund, ich spielte Klavier, es wurde sehr spät - und am nächsten Morgen hab' ich verschlafen. Es musste also ein anderer statt mir zum Hafen. Und der kam bei einem Attentat einer vermutlich jüdischen Terrororganisation ums Leben. Natürlich hat mir niemand geglaubt, dass ich von diesem Anschlag nichts wusste. Meine englischen Freunde im Sender redeten daraufhin kein Wort mehr mit mir. STANDARD: War das mit ein Grund, warum Sie Palästina im Frühjahr 1948 verließen? Bronner: Nein, der Sender wurde geschlossen, ich wäre arbeitslos gewesen. Das Engagement nach London kam mir daher sehr recht. Wir setzten nach Italien über und fuhren mit dem Zug über Venedig nach Wien. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.10.2002)