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Kehlmann über Bronner: "So aufgehoben fühlte man sich in seiner Freundschaft, dass ich jetzt noch nicht weiß, wie ich von ihm in der Vergangenheit sprechen soll. Dass ich ihn vermissen werde, ist eine zu schwache Formulierung."

Foto: APA/Harald Schneider
"Auf uns wartet keine bessere Welt. Diese hier ist ziemlich schlecht, aber sie ist alles, was wir haben, und manchmal schenkt sie uns große Menschen." - Eine Hommage an den am Freitag verstorbenen Autor und Musiker Gerhard Bronner von Daniel Kehlmann.

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Ich war wohl zehn oder elf. Meine Eltern gaben eine Silvesterparty, und irgendwie waren mehrere Feuerwerksraketen in meine Hände geraten. Ich hatte keine Ahnung, wie man mit ihnen umgehen sollte. Gerhard Bronner, einer der Gäste, sah meine Hilflosigkeit und schaltete sich ohne Zögern ein. Er wies mich an, Erde in zwei Blumentöpfe zu füllen, baute aus ihnen sowie einigen Ziegelsteinen eine Abschussrampe, wies alle Umstehenden an, auf Distanz zu bleiben, und dann, eine nach der anderen, ließ er die Raketen in den Nachthimmel schnellen.

Erst Jahre später, zufällig und nebenbei, verriet er mir, dass auch er vor jenem Abend noch nie mit Feuerwerk zu tun gehabt hatte. Aber es habe sich nun einmal sonst keiner ausgekannt, und da habe er die Dinge in die Hand nehmen müssen!

Intelligenz, Begabung und Courage

So war es immer bei ihm. So lernte er Klavier, so wurde er zum Theaterdirektor, so zum Komponisten, zum Barbesitzer, Schriftsteller, Übersetzer: Was zu tun war, tat er, und Kraft seiner Intelligenz, seiner Begabung und Courage machte er es jedes Mal mindestens ebenso gut wie die wohlausgebildeten Profis.

Sein prägendes Erlebnis, das war wohl, als er als Kind auf der Flucht bei Rustschuk nachts über die Donau nach Rumänien schwamm. Er und ein Freund kamen - Gerhard hat es mir ein einziges Mal in ebenso knappen Worten erzählt, wie er es später in seiner Autobiographie schilderte - in eine Strömung; der Freund ertrank, Gerhard erreichte das andere Ufer. Aber es waren wohl diese Stunden im eisigen Fluss, in denen ihm klar wurde, dass er wirklich allein war, dass ihm kein Gott und kein Mensch helfen konnte, kein Freund, kein Verwandter, niemand auf der Welt.

Von da an, und so lange er lebte, machte er Probleme mit sich selbst aus.

Religion

Religion, sagte er immer wieder, sei für Leute, die Krücken bräuchten. Und tatsächlich, er brauchte keine. Viele behaupten das von sich, aber bei ihm stimmte es. Er vermochte, allein zu stehen, er lebte einem vor, dass es möglich ist, ganz für sich und als denkender Mensch durchs Dasein zu gehen.

Er mochte keine Verehrung, weder für sich, noch für andere, er mochte keinen Glauben, und er war der Meinung, dass kein intellektuelles System je unwidersprochen bleiben dürfe. Wenn die Zivilisation versage, heißt es bei Joseph Conrad, bleibe dem Einzelnen nur die eigene innere Stärke und Anständigkeit. Conrad meint, dass das zu wenig ist, aber Gerhard Bronner, der früh ein solches Versagen der Zivilisation erlebt hatte, demonstrierte jedem, der ihn kannte, dass es eine Menge sein kann.

Er war nicht bloß Autor witziger Chansons. Dieser überzeugte Atheist schrieb einen jüdischen Gottesdienst, der neben den Werken seines Freundes Leonard Bernstein stehen kann, und er verfasste eine Autobiografie, die zu den - ich zögere, dieses Wort zu verwenden, aber wissend, dass Gerhard mich ausgelacht hätte, sage ich es dieses eine Mal doch - großen Büchern der Zeugenliteratur gehört: ein Buch über seine einsame, schwere Jugend, seine ermordete Familie, den Hunger, seine Flucht ums Leben und seine Rückkehr über Palästina und England in ein Österreich, das ihm wichtiger war, als er eingestehen wollte, und in dem er sich doch nie mehr zu Hause fühlte; all das ohne jede Spur von Larmoyanz, ganz in jenem lakonischen Ton, der zu ihm gehörte und oft - auch weil er in allen Doppelconferencen sich selbst die Rolle des Rechthabers zuschrieb und seinen Partnern die Pointen überließ - für Arroganz gehalten wurde.

Arroganz

Um zu diesem Ruf der Arroganz zu kommen, braucht es in Österreich üblicherweise nicht mehr als Sprachgewandtheit, die Ausstrahlung von Intelligenz und niedrige Toleranz gegenüber Dummheit. Wie nicht wenige, die als arrogant gelten, war Gerhard ein hilfsbereiter, warmherziger und zuverlässiger Mensch. Wenn man ihn brauchte, war er da. Diese Erfahrung machte mein Vater sein Leben lang, und auch mir war sie noch vergönnt.

So aufgehoben fühlte man sich in seiner Freundschaft, dass ich jetzt noch nicht weiß, wie ich von ihm in der Vergangenheit sprechen soll, wie ein Leben ohne seine Anwesenheit, seinen Rat und sein Urteil zu führen sein soll. Gerhard hat jedes Manuskript gelesen, das ich geschrieben habe, ich habe keine Entscheidung getroffen, ohne sie mit ihm zu besprechen. Wenn es das nächste Mal Feuerwerkskörper zu zünden gilt, werde ich auf mich allein gestellt sein. Dass ich ihn vermissen werde, ist eine zu schwache Formulierung.

Wenn Ungläubige sterben, drücken die Verbliebenen gerne in lächelnder Herablassung aus, dass der Tote es jetzt wohl verstanden habe, dass er nun wisse, dass es sie doch gebe, die bessere Welt und ihren Schöpfer, und dass er in veränderter Form noch bei uns sei.

Nach Gerhards Bronners Vorbild aber handelt man, indem man platte Tröstungen ausschlägt. Er ist nicht mehr unter uns, in keiner Weise und Gestalt. Von ihm, seiner Haltung, seinem Leben und seiner unverwechselbaren Stimme, konnte man lernen, dass Unglaube, ans irdische wie ans himmlische Paradies, noch lange kein Grund ist, den Humor zu verlieren. Auf uns wartet keine bessere Welt. Diese hier ist ziemlich schlecht, aber sie ist alles, was wir haben, und manchmal schenkt sie uns große Menschen.

Dieses Land wird nicht mehr dasselbe sein. Wieder ist ein Stück jener Urbanität, Exzellenz und leichthändigen Brillanz, die den Bewunderern von Erde, Mundart und Brauchtum heute so unerträglich ist wie immer schon, dahin. Aber es bleibt doch manches. Es bleibt sein Buch, und es bleiben unzählige Aufnahmen, die uns seine Stimme erhalten, seine Musikalität, seinen scharfen Witz - eine Ahnung von allem, was einmal war und jetzt nicht mehr ist. (DER STANDARD Printausgabe, 22.01.2007)