Essen - Man sollte das Mozartjahr einfach noch um einen Monat verlängern. Dann könnte man aus guten Theatergründen diesen Don Giovanni von Stefan Herheim getrost zu dessen Höhepunkten rechnen. Auf den ersten Blick wird hier eine Nachtschicht in der Kirche gefahren, eine Art spukende Messe, die die Grenze zur Orgie touchiert. Eine, in der Nonnen auch rocken, Adam und Eva durchs Bild laufen und Apfel und Schlange abliefern, Donna Elvira wie eine Madonna ihrer Nische entsteigt und Leporello einen Priester abgibt, der nicht nur seinem Herrn dient, sondern sich dabei auch selbst geißelt.

In Thomas Schusters opulenter Bühnenkirche bewegen sich Säulen und Wände, Altäre und Heiligenfiguren wie von Geisterhand. Klar, dass die Beichtstühle hier vorwiegend für diverse Amouren genutzt werden. Und dass hinter dem Altarbild mit Michelangelos Finger Gottes das Bühnenorchester sitzt. Mal wie die Engel, mal wie Mozart ausstaffiert. Giovanni gibt hier den Verführer als bizarren (Be-)Zauberer, der sich flugs eine Narrenkappe aus der Bischofsmütze formt und so den Reigen der Gäste auf dem Fest anführt.

So wie Jesus hier vom Kreuz steigt und blasphemisch scharmützelt wird, erinnert das gut und gerne an den jugendlichen Wiedergänger eines Hans Neuenfels. Auf den zweiten Blick freilich geht's nicht nur ums antiklerikale Revoluzzern eines hedonistischen Antipriesters. Oder um die erotische Kehrseite des sich mit und in seinem kirchlichen Amt quälenden Leporello. Herheim übersetzt nämlich all die religiösen Rituale, die die brodelnden Unwägbarkeiten der Menschennatur an die Kette legen, in Bildern und Aktionen einfach wieder zurück. Wenn am Ende etwa eine biedere Gottesdienstgemeinde Giovanni quasi zerfleischt und frisst, dann ist das ein Akt der Vernichtung. Aber dadurch lebt auch ein Stück von ihm in jedem Einzelnen weiter, auch wenn man ihn "brav" verurteilt. Das ist eine Art katholischer Moraldialektik von eher bösem Witz. Es gibt aber auch den der heiter komödiantischen Art.

Zerlina und Masetto etwa kommen bei ihrem ersten Auftritt im Doppelpack. Man sieht einmal das junge Hochzeitspaar - und das andere fünfzig Jahre älter. Sozusagen am anderen Ende ihrer Liebe. Sie schon mit Rolllader und auch er (Marcel Rosca) am Stock. Sie werden durch ihre Präsenz zu den tröstlichen Protagonisten eines möglichen Glücks. Die fabelhafte Helen Donath gibt diese besondere Zerlina, die die Erfahrung eines ganzen Lebens einbringt.

Herheim in Aktion

Nicht jeder der Einfälle ist so durchdacht. Manchmal verselbstständigt sich die Lust an der Bühnenaktion. Aber dieser Giovanni bietet spannendes Theater. Und der Intendant am Dirigentenpult, Stefan Soltesz, und die Essener Philharmoniker fühlen sich mit diesem Vollblut-Giovanni hörbar wohl. Da lodert die Leidenschaft, da ist Spielwitz.

Silvana Dussmann ist eine kraftvolle Donna Anna, Bea Robein gewinnt als Donna Elvira schnell Statur, und Almas Svilpa ist ein präsenter Leporello. Andreas Hermann wirkte als Ottavio etwas überfordert. Die bizarre Note dieser Inszenierung wurde am Premierenabend noch auf die Spitze getrieben, weil sich Diogenes Randes verletzte, nur von der Seite aus singen konnte. So spielte Herheim den Giovanni selbst.

Seine Intensität war ein Schmankerl, das erahnen lässt, wie er als Regisseur arbeitet. Es gehört zur Operngeschichte, wie einst Ruth Berghaus in Brüssel ihre Lulu selbst spielte. Nicht das schlechteste Omen für Herheim, der als Regisseur natürlich auch Widerspruch einstecken musste. (Joachim Lange/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29. 1. 2007)