Der Goldene Ring ist ein heißer Tipp für jene, die gedacht haben, russischer Tee käme nicht mehr aus funkelnden Samowaren. Eine Uschanka oder Tschapka am Kopf ist dennoch der verlässlichere Schutz gegen die eisige Kälte.

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Das Wintermärchen heißt Sergiev Possad. Und die Hundekälte, die einen antreibt, und im Stile von russischen Bären in die feuerroten Ohren und Backen beißt, gehört im Moment wohl dazu. Solide Fäustlinge vom Typus Kosmonautengreifer helfen fürs erste weiter. Und natürlich ein Paar flauschig dicker, nach Landesart über die Ohren gezurrter Zobelbäuche, die neben der Eiseskälte auch das grimmige Heulen der Winterwinde souverän herunterdimmen. Und das ist gut so - schließlich würde der Zauber des Moments durch jedes Geräusch nur verlieren. Lautloser, himmlischer Schneewalzer ist nämlich gerade angesagt zwischen den goldglänzenden Zwiebeldächern der Sergiev Possader Klöster und Kathedralen, die hier wie sattgelbe Schaschlikspießchen in Mütterchen Russlands heiligstem Terrain stecken. Leise rieseln die dichten Flöckchen von der gräulich verwaschenen Himmels-Tuchent herunter und senken sich als dicke, weiße Decke über Kieswege, verwaiste Rote-Rüben-Beete und die Dankesschreiben von Pilgern aus Yaroslawl, St.Petersburg und Wolgograd.

Landeskenner und gelernte Moskowiter wissen, wofür sie sich hier bedanken. Immerhin gilt der 75 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegene Ort, der bis zur Wende Zagorsk genannt wurde, seit der Gründung des Dreifaltigkeitsklosters des Hl. Sergius im Jahre 1340 als spirituelles Zentrum des Landes - und als Ort des nationalen Widerstandes. Schon während der Zeit der Tartarenstürme, und späterhin gegen die Polen, fungierte er als wehrhafter Bauklotz. Zagorsk war dabei sakrosanktes Glied einer ganzen Kette von geschichtsträchtigen Stätten, die im Nordosten Moskaus und in jeweils 80-km-Etappen angelegt worden waren. Eine Distanz, die Russlands Kutscher einst solide Acht-Stunden-Arbeitstage bescherte ? und heutigen Besuchern einen unvergesslichen Trip ins Zentrum der russischen Seele.

Eisiger Vorhang

Operettenhaft schieben sich die Umrisse von russischen Archetypen durch den leise fallenden Schneeflockenvorhang: rundliche Frauen mit giftgrünen Kopftüchern etwa, die für die am Eingang verhökerten Matrjoschka-Holzpuppen Modell stehen könnten, und rotgesichtige Bauern mit heiligem Wodkaschein. Auch Saatkrähen flattern über die angezuckerten Höfe der vom Schneetreiben trüben Zwiebeldächersuppe. Schwarz verwischte Kleckse, die von den fein geäderten Baumkronen auf die langen, wehenden Kleider und weißen Rauschebärte der Popen herabschielen. Gemeinsam mit über hundert Mönchen bereichern nämlich auch diese Sergiev Possads russisches Panoptikum und sorgen hier für Weihrauchschwaden und den sonoren Liturgie-Soundtrack.

Dass am vereisten Parkplatz auch verchromte Luxusschlitten vorrollen, mit privatem Blaulicht statt Schellengebimmel, kann am märchenhaften Reiz der winterlichen Szenerie nichts ändern. Denn das eher unverkrampft wirkende Auftreten der neureichen Businessmen gehört genauso zum russischen Alltag wie die pampigen Staatsdiener-Visagen der Museumsportiere. Im - an Sergiev Possads Kirchen angrenzenden - Museum wachen sie über alte Ornate und gleißende Klosterschätze. Und wohl auch über die eigenen, goldblinkenden Eckzähne.

Mühelos ließe sich dieser "Goldene Ring" um weitere ehemalige Außenposten des alten Kiewer Reiches ergänzen. Die pittoreske Museumsstadt Suzdal, oder die selten besuchten, ehemals prosperierenden Handelsniederlassungen Pereslavl-Zalessky, Yaroslavl oder Vladimir locken nämlich bis heute mit Holzkirchen und Kaufmannspalästen aus dem 16. und 17. Jahrhundert - und bieten so besonders schöne Gucklöcher auf das alte zaristische Russland. Oder aber an Dostojewskij im Wunderland. Denn immerhin flitzen neben obskur aufgebockten Panzer-Denkmälern und Supermärkten unterwegs auch zahllose traditionelle Dörfer vorbei. Weiße Spitzenvorhänge, ein üppiger Fenstergarten aus sprießenden Eisblumen, und dahinter eine leise Ahnung von blinkenden Samowaren und russischem Tee - all das findet sich neben Moskaus Suburbs noch heute.

Fingerzeig im Trüben

Unterwegs nach Neu Jerusalem, einem weiteren Ausflugsziel am Rande Moskaus: Schneematsch, bettelnde Kinder an den Kreuzungen der Ausfallstraßen, später Überholmanöver von Pferdefuhrwerken."Dieses Haus gehörte früher Präsident Gorbatschow", der Fahrer wischt mit dem Zeigefinger auf der angelaufenen Windschutzscheibe herum. Doch auch die roten Ziegelsteine des zaristischen Peterspalastes leuchten am Moskauer Leningradski Prospekt durchs Lada-Fenster herein und rund vierzig Kilometer weiter nordöstlich: die goldenen Kuppeln des Klosters Neu Jerusalem.

Herrlich liegt diese Anlage des Patriarchen Nikon seit dem Jahre 1656 am Flussufer der Istra. Grün glasierte "Pfauenaugen"-Keramikfliesen und die vielen Fenster einer spektakulären Rotunde glitzern in der Sonne. Vom Dampf im unterirdisch gelegenen Felsengrab der Neu Jerusalemer Auferstehungskirche, der Brillen und Kameralinsen beschlagen lässt, ist in der klaren, kalten Luft nicht viel zu ahnen.

In unmittelbarer Nähe zur Anlage knarren die Uralt-Bretter einer kleinen Holzkirche, und schnarrt eine historische Windmühle. Kids in grünen Pudelmützen testen an einer benachbarten Böschung perfekte Kurven. Das Label ihrer rutschfreudigen Kunstdünger-Plastiksäcke spielt, so scheints, keine wirkliche Rolle. Mammas heiße Thermosflasche, einige kalte Piroggen vom Vortag und aerodynamische Igelfrisuren ? das sind die Dinge, die hier zählen.(Robert Haidinger/Der Standard/Printausgabe/10./11.2.2007)