OECD-Bildungsforscher Andreas Schleicher: "Die erfolgreichen Bildungssysteme sind individuell fördernde integrierte Systeme", die jedem Kind Außergewöhnliches zutrauen.

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Andreas Schleicher, OECD-Chefanalyst und Mister Pisa, über erfolgreiche Bildungssysteme, "falsche" Schüler, die außergewöhnlich sind, Gesamtschule, die nicht "links", sondern liberal ist, und gegliederte Systeme, die "sozialistische Relikte" sind. Mit ihm sprach Lisa Nimmervoll.

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STANDARD: Österreich will mit der Gesamtschule experimentieren. Weist dieser Schritt in die richtige Richtung?

Schleicher: Klar ist, die erfolgreichen Bildungssysteme, z.B. Finnland, Japan, Kanada sind individuell fördernde integrierte Bildungssysteme, wo es eine Schule gibt, in der sich die Lehrer individuell um alle Schüler kümmern müssen, wo es für Lehrer keine Möglichkeit gibt zu sagen, wir machen hier den richtigen Unterricht und haben die falschen Schüler. Die Schule übernimmt Verantwortung für den Erfolg des einzelnen Schülers.

STANDARD: Wird die Schule der Zukunft und die Schule mit Zukunft die gemeinsame Schule der 6- bis 14-Jährigen sein?

Schleicher: Wenn es eine Schule wird, wo alles nur bunt zusammengemischt wird, bringt es niemandem etwas. Die Frage ist, wie man sicherstellen kann, dass in einer Schule jeder Schüler individuell gefördert wird. Die Schule der Vergangenheit war eine Schule, wo ein Lehrer im Gleichschritt alle Schüler das Gleiche lernen lässt. Das Modell der Zukunft ist, dass Lehrer die Stärken und Schwächen eines Schülers individuell diagnostizieren und individuell fördern und fordern.

STANDARD: Wäre es dann nicht fast wichtiger, bei den Lehrerinnen und Lehrern anzusetzen statt an der Struktur?

Schleicher: Der konstruktive Umgang mit Vielfalt stellt sicher hohe Anforderungen an Lehrer – wie die fortwährende Diagnose und Bewertung des individuellen Lernbedarfs eines Schülers, in einer Form, die innerhalb universeller Bildungsziele objektivierbar ist, die Förderung der Fähigkeit und Motivation jedes einzelnen Schülers, durch Lehr- und Lernformen, die nicht defizitär angelegt sind und den Schüler ständig vor Misserfolge stellen, sondern wirklich auf den Einzelnen zugeschnitten sind. Dem liegt die Überzeugung zu Grunde, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben. Und es braucht individuelle Lehrpläne, die die Verschiedenheit der Schüler nicht als Problem, sondern als Potenzial guten Unterrichts sieht.

STANDARD: Was heißt das für die Lehrerinnen und Lehrer?

Schleicher: Entscheidend ist, dass wir das Lehrern nicht einfach verordnen können, sondern auch radikal in der Organisation von Schule umdenken müssen, in einer Art, die den individuellen Lernfortschritt in den Mittelpunkt stellt und in welcher Schulen Verantwortung für ihre Ergebnisse übernehmen anstatt diese auf andere Schulformen abzuwälzen, wie das in gegliederten Schulsystemen passiert. Die vielen hoch qualifizierten und motivierten Lehrer brauchen dazu ein Arbeitsumfeld, das Perspektiven für Entwicklung, Kreativität und Karriere sowie mehr Verantwortung für Lernergeb_nisse und bessere Unterstützungssysteme bietet.

STANDARD: Was sagt die Pisa-Studie über differenzierte und echte Gesamtschulsysteme?

Schleicher: Alle Bildungssysteme im Pisa-Vergleich, die eine sehr gute Gesamtleistung hatten und eine ausgewogene soziale Verteilung von Bildungschancen, sind individuell fördernde integrierte Systeme. Umgekehrt gilt: Je fragmentierter ein Schulsystem ist, umso sozial unausgewogener sind die Bildungschancen. Das heißt, man nutzt das Potenzial von Kindern aus sozial schwächeren Zusammenhängen nicht. Das ist keine parteipolitische, sondern eine ganz existenzielle Frage für Nationen, die nur am oberen Ende des Leistungsspektrums konkurrieren können.

STANDARD: Eltern denken selten in volkswirtschaftlichen oder sozialen Kategorien, solange es ihr Kind nicht negativ betrifft. Wie überzeugen Sie die von den Vorteilen der Gesamtschule?

Schleicher: In einer Schule, in der alle Schüler einer Klasse frontal im Gleichschritt unterrichtet werden, gibt es keine Leistungsspitze, weil im Grunde Mittelmaß zur Norm erhoben wird, so lange es wenig Anreiz gibt zu individualisieren. Dann wird auch das Kind, selbst, wenn es hoch intelligent ist, nicht individuell gefördert. Das klassische dreigliedrige System nützt dem mittlerem Leistungsniveau. Es nützt weder denen an der Leistungsspitze noch denen am unteren Rand des Spektrums.

STANDARD: In Österreich ist Bildungspolitik ideologisch extrem aufgeladen. Ist die Gesamtschule eine „linke“ Schule?

Schleicher: Meiner Ansicht nach ist die individuelle Gesamtschule das Urbild von Liberalität, weil sie voraussetzt, dass jeder Schüler sein Potenzial voll ausschöpfen kann und individuell gefördert wird. Das, was wir heute in gegliederten Schulsystem haben, die Einteilung nach einheitlichen Kriterien, ist ein Relikt des Sozialismus.

STANDARD: Die Unterrichtsministerin will mit Modellregionen starten. Ist das sinnvoll, oder muss man gesamt umstellen, dass es etwas wird?

Schleicher : Länder wie England, Finnland oder Schweden, haben seit den 1960er- Jahren das gesamte Schulsystem umgestellt und damit Erfolg gehabt. Deutschland hat ein neues Schulmodell als zusätzliche Schulform geschaffen. Letzteres ist der schwierigere Weg, und es besteht die Gefahr, aus einem dreigliedrigen Schulsystem ein viergliedriges Schulsystem zu machen, es also bei einer organisatorischen Veränderung zu belassen, ohne die hinter dem Schulsystem stehenden Anreiz- und Unterstützungssysteme zu verändern, was für den Erfolg entscheidend ist. (Lisa Nimmervoll/DER STANDARD-Printausgabe, 5./6. Mai 2007)