Der Choreograf Alain Platel, sagt Fabrizio Cassol, ein Mitbegründer der Gruppe Aka Moon, die Monteverdis Musik bei "vsprs" live auf der Bühne des Theaters an der Wien spielt, ist "ein großer Verführer."

Foto: Goovaerts
Das Buch wird Ende Juni in der Reihe "Nahaufnahme" des Berliner Alexander Verlags erscheinen wird.



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Klett: Wenn ich jetzt die Proben für "vsprs" sehe - und das waren ja auch alles Tänzer, die sich vorher nicht kannten -, dann bin ich wirklich beeindruckt, wie schnell und gut die zusammengekommen sind, wie freundschaftlich und großzügig sie miteinander umgehen, wie liebevoll sie eine Außenseiterin wie Iona Kewney einbeziehen und dass sie eben gerade nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich gegenseitig Platz und Luft lassen. Ich bewundere das sehr. Das muss aber auch mit dir zu tun haben - offenbar hast du inzwischen gelernt, wie man eine Gruppe richtig zusammenstellt.

Platel: Nein, das kann man nicht lernen, das hat mit Intuition zu tun. Ich werde oft gefragt, nach welchen Kriterien ich meine Tänzer aussuche, aber es ist schwierig, das zu beschreiben. Sie haben alle eine gewisse Art von Schüchternheit, aber auch eine gewisse Art von Bravour. Und es sind alles sehr gute Tänzer.

Ich bete immer nur, dass sie gut miteinander auskommen, dass ich mich nicht geirrt habe - manchmal entpuppt sich jemand bei den Proben als eine ganz andere Person als die, die du engagiert hast. Aber diesmal habe ich keine negativen Überraschungen erlebt, stattdessen einige sehr positive.

Klett: Welche Informationen hatten die Tänzer, als sie herkamen? Was hast du ihnen von dem neuen Stück erzählt?

Platel: Ich habe ihnen von der Musik für das Stück erzählt, Monteverdis Marienvesper, wir haben Dokumentarfilme über psychische Krankheiten gesehen, ich habe ihnen erzählt, wie ich von der »Schüttelbewegung« fasziniert bin, und versucht, sie mit dieser Welt vertraut zu machen. Zum Glück hat das alle interessiert, und die meisten hatten auch schon Stücke von mir gesehen.

Ich arbeite ja immer wieder mit neuen Tänzern - das kommt noch aus der Anfangszeit, wo wir nichts bezahlen und deshalb immer nur mit denen arbeiten konnten, die gerade Zeit und Lust hatten. Manche von ihnen waren Amateure, die das mal so zum Spaß machten, aber nie die Absicht hatten weiterzumachen. Deswegen musste ich immer wieder mit neuen Leuten arbeiten, und es gefiel mir auch, dass es für jede neue Aufführung eine neue Gruppe gab und dass die Aufführung immer sehr von der jeweiligen Gruppe bestimmt war. Mit einigen Tänzern wollte ich aber aus verschiedenen Gründen gern weiterarbeiten, also gab es seit Bonjour Madame immer wieder Tänzer, die in mehreren Produktionen waren.

Klett: Wer hält den Rekord?

Platel: Sam Louwyck, mit ihm habe ich drei Stücke gemacht, Bonjour Madame, La Tristeza und Iets op Bach, oder Lisi [Estaràs], die in Iets op Bach war, in Wolf und jetzt in vsprs. Drei scheint die magische Zahl zu sein. Nein, warte, Necati [Köylü], der ist am längsten in der Kompanie (...) Necati könnte mein Sohn sein (...)

Klett: Apropos »Sohn« - hast du eigentlich Kinder?

Platel: Nein. Isnelle [seine Frau] hat einen Sohn, der ist 24, aber ich selbst wollte nie Kinder.

Klett: Das ist überraschend: Du arbeitest mit Kindern, du liebst Kinder, und in deinen Stücken kommen fast immer Kinder vor. Warum wolltest du keine?

Platel: Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich bin sehr pessimistisch. Ich liebe das Leben, ich mag, wie ich lebe, und seit ein paar Jahren sage ich mir: Wenn ich jetzt sterbe, kann ich zufrieden sein - ich habe das gemacht, was ich machen wollte. Trotzdem finde ich, dass das Leben als solches etwas sehr Trauriges ist, vielleicht will ich deshalb, dass meine Stücke immer mit dem Tod enden, weil das eben irgendwie der Zweck des Lebens ist. (SPEZIAL/ DER STANDARD, Printausgabe, 31.05.2007)

>>>Nahaufnahme Alain Platel Nahaufnahme Alain Platel (Alexander Verlag, Berlin 2007)

Fünf ausführliche Gespräche mit Alain Platel und ein kompletter Werkkatalog seiner Arbeiten von 1984 bis 2007 bieten in dieser Neuerscheinung einen umfassenden Einblick in die Lebensgeschichte und Arbeitsphilosophie des flämischen Künstlers, dessen Schaffensmittelpunkt die belgische Stadt Gent ist.

Die deutsche Tanzkritikerin Renate Klett hat sich zwischen dem 21. Dezember 2005 (damals wurde das Interview geführt, aus dem der nebenstehende Ausschnitt stammt) und Dezember 2006 mit dem 1956 geborenen Choreografen getroffen und ihm aufschlussreiche Details entlockt.

Entspannt erzählt Platel, der zu den wichtigsten Gegenwartschoreografen zählt, über seine Arbeit und liefert damit wertvolle Informationen zum Verständnis seiner Stücke und seines besonderen, immer am Menschen orientierten Kunstverständnisses. (ploe/ SPEZIAL/ DER STANDARD, Printausgabe, 31.05.2007)