"Es heißt ja, dass die Leistung von Tänzern mit dem Alter abnimmt. Das kann ich von mir nicht behaupten."

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STANDARD: Ende der Achtzigerjahre hatten Sie sich bereits als Tänzerin von der Bühne verabschiedet, sind aber einige Jahre später wieder zurückgekehrt. Es sei ein Fehler gewesen, mit dem Tanzen aufzuhören, sagten Sie einmal.

Anne Teresa De Keersmaeker: Ich habe es vermisst. Aber es war ein notwendiger Übergang. Die Kompanie wurde größer, Männer kamen hinzu. Ich hatte immer weit gehend unisono gearbeitet. Doch dann faszinierte mich die kontrapunktische Arbeit in der Komposition. Und es ist schwierig, damit zu arbeiten, wenn man selbst mittendrin ist. Es braucht ein Auge von außen. Außerdem lag mir daran, das Vokabular zu vergrößern.

Die Tänzer brachten eine Menge an neuem Vokabular ein. Je größer die Gruppe ist, um so mehr wird das Choreografieren zu einem intensiven sozialen Projekt. Das ist um so schwieriger, wenn man selbst drinsteckt, als wenn man den Prozess von außen leitet. Das waren die Gründe. Und dass ich Kinder bekommen habe. Als Mutter hatte ich natürlich das Bedürfnis, nicht immer da sein zu müssen.

STANDARD: Und mittlerweile gelingt es Ihnen, beide Perspektiven zu vereinen: tänzerisch von innen heraus zu arbeiten und dennoch den Blick von außen nicht zu verlieren?

De Keersmaeker: Nun, nein. Ich gehe stets von einem Basisvokabular aus. Und das erarbeite ich immer selbst. Eine Art Nukleus, von dem aus ich beginne.

STANDARD: Bis vor Kurzem haben Sie "Fase" getanzt, Ihr erstes Stück, das Sie, mit Unterbrechung, durch Ihre gesamte Karriere begleitet hat. Heute tanzen Sie das Solo "Once", das Duett "Small Hands", "Desh". Wie würden Sie die Entwicklung der Tänzerin und Performerin Anne Teresa De Keersmaeker beschreiben?

De Keersmaeker: Es war für mich immer sowohl eine Notwendigkeit als auch ein Vergnügen, auf der Bühne zu sein. Heute genieße ich es sogar noch mehr als früher. Wahrscheinlich, weil ich es zwischendurch vermisst habe. Es heißt ja, dass die Leistung von Tänzern mit dem Alter abnimmt. Das kann ich von mir nicht behaupten. (...) Mag sein, dass es daran liegt, dass ich vor 20 Jahren ein ziemlich wildes Leben geführt habe. Die tägliche Disziplin fiel mir damals viel schwerer als heute.

Doch wenn man Kinder hat und gleichzeitig die Arbeit mit der Kompanie fortsetzen möchte, führt man zwangsläufig ein sehr organisiertes Leben. Es wird absolut notwendig, auf sich aufzupassen. Sonst schafft man es einfach nicht. Ich fühle mich daher sehr viel freier als noch vor 20 Jahren. Selbst was die Kondition angeht. Außerdem, in Anbetracht meines Lebens und all der Dinge, die darin passieren, ist das Tanzen zwar wichtig, aber doch nicht mehr so essenziell. Man fängt an, das Ganze mehr philosophisch zu betrachten. Und das befreit. Nach dem Motto: Wenn es geht, ist es gut, wenn nicht, ist es auch gut. Man hat nicht mehr das Gefühl, etwas zu verlieren. Das gilt aber auch für die Arbeit mit der Kompanie. Es gibt Stücke, die haben großen Erfolg, und es gibt Stücke, die in der Luft zerrissen werden, die wirklich niemand mag. Dann gibt es solche, die von einigen geliebt und von anderen gehasst werden. Da muss man durch. Und es ist eine gute Schule, daran weiter zu wachsen und dennoch zu versuchen, sich selbst treu zu bleiben. (...) Ich versuche, mich nicht zu verschließen.

STANDARD: Halten Sie an Stücken fest, auch wenn sie total verrissen wurden?

De Keersmaeker: Ja! Einige von ihnen können wir heute nur nicht wiederaufnehmen, weil sie so eng mit den Performern verknüpft sind. (...)

STANDARD: Ihre Choreografien wollen den Zuschauer zum Hören von Musik bewegen. Lassen Sie deshalb die verwendeten Kompositionen unangetastet?

De Keersmaeker: Nicht immer. In Bitches Brew beispielsweise ist ein Abschnitt total geschnitten. Ich liebe Musik. Bezogen auf die Kunst war und ist Musik das Wichtigste in meinem Leben, neben dem Tanz. Die Musik ist gewissermaßen meine Schule gewesen. Durch sie habe ich gelernt, Raum und Zeit zu organisieren, den Kontrapunkt herauszufinden und ein Vokabular zu generieren. (...) Und ich hatte die Chance, von wirklich wundervollen, ausgezeichneten Musikern umgeben zu sein. (...) Und obendrein ist da jemand wie Thierry de Mey, der mich rundum mit Musik versorgt. Mein musikalischer Dealer sozusagen.

(Irmela Kästner, DER STANDARD/Printausgabe, 12.06.2007)