Vietnam verband man lange mit dem Krieg gegen die USA: mit den vielen Opfern, den grausamen Bildern – Stichwort Napalm Girl –, den zahlreichen Protesten in aller Welt; auch mit den Hollywoodfilmen, mit denen das nationale Trauma verarbeitet wurde, mit Robin Williams in seiner legendären Rolle als Radiomoderator in "Good Morning, Vietnam"; mit Agent Orange, dieser von den USA so schamlos eingesetzten Chemiewaffe. Mittlerweile aber hat sich das Kriegsende am 30. April zum bereits 48. Mal gejährt. Und auch wenn die damals siegreichen Kommunisten im südostasiatischen Land weiterhin an der Macht sind, hat sich doch einiges am Roten Fluss geändert.

Der Wandel wurde elf Jahre nach Kriegsende eingeleitet. Das Land lag brach, es hatte nicht nur den Krieg gegen die USA, sondern danach auch die Militäroffensive gegen die Roten Khmer in Kambodscha sowie den Krieg gegen China zu verdauen. Hungersnöte drohten, und so entschloss sich die Kommunistische Partei (KP) 1986 zur Đổi mới: zur Erneuerung.

Ende der Planwirtschaft

Im Kern ging es darum, von einer Planwirtschaft auf eine "sozialistische Marktwirtschaft" umzusatteln. Besitz war fortan erlaubt, Investoren durften ins Land, auch wenn staatliche und genossenschaftliche Unternehmen weiter dominieren sollten. Politische Reformen waren hingegen nicht geplant, an der Allmacht der KP sollte nicht mal ansatzweise gerüttelt werden.

Wer schon einmal in Vietnam war, weiß: Nichts ist dort zu groß, um es nicht irgendwie doch mit dem Moped transportieren zu können.
AFP/NHAC NGUYEN

Um die Wirtschaft des Landes weiter aufzupäppeln, setzte man ab Anfang der 1990er-Jahre außerdem verstärkt auf den Tourismus. Hierbei entscheidend war die Öffnung in Richtung Westen, gipfelnd mit der Normalisierung der Beziehungen zu den USA im Jahr 1995.

Seitdem ging es steil bergauf mit Vietnams Wirtschaft. Zu erkennen ist das vor allem an der rund 3.400 Kilometer langen Küste, wo bis heute unzählige Hotels aus dem Boden sprießen. Mittlerweile gelten die Halong-Bucht oder das Mekong-Delta als absoluter Place to be, und die vietnamesische Küche nahm in den vergangenen Jahren einen Aufschwung, um die internationalen Gaumen zu erfreuen. Das zeigt sich auch im mehr als 8.000 Kilometer entfernten Wien, wo man mittlerweile gefühlt an jeder Straßenecke eine vernünftige Phở-Suppe erstehen kann.

Straßen werden zu eng

In Hanoi, dem vietnamesischen Pendant der österreichischen Hauptstadt, dominieren wie gehabt unzählige Mopeds mit ihrem Dauerhupen die Großstadtakustik, während Cyclo-Fahrer und Straßenverkäufer dazwischen ihre Waren feilbieten. Doch wer genau hinsieht, bemerkt eine Veränderung im Stadtbild, die die Einheimischen auch bestätigen: Weit mehr Autos als noch vor ein paar Jahren kurven etwa um den Hoan-Kiem-See. Ein Zeichen des wachsenden Wohlstands, das allerdings zu dem Problem führt, dass nun schnell einmal die Straßen zu eng werden. Und das ist angesichts der vietnamesischen Tradition, sich am Gehsteig bzw. am Straßenrand breitzumachen, nicht zu vernachlässigen.

Es ist den Vietnamesinnen und Vietnamesen wohl zumutbar, wenn dafür die Armut im Land erfolgreich bekämpft wird. In den 1980er-Jahren war Vietnam eines der ärmsten Länder der Welt, noch in den 1990er-Jahren lebte mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Armut. 2018 waren es nur mehr knapp sieben Prozent, aktuell leben laut offizieller Statistik zwei Prozent unter der Armutsgrenze. Auch wenn man diese Zahlen durchaus hinterfragen kann, ist die Entwicklung beeindruckend. Und geht es nach der Regierung in Hanoi, ist sie noch nicht zu Ende: 2045 will man ein Industrieland werden.

Samsung-Handys aus Vietnam

Das ist ein realistisches Ziel, auch wenn sich die überragenden Wachstumsraten des Landes – 2022 waren es 8,0 Prozent – zuletzt abgeschwächt haben. Es setzt mittlerweile nicht mehr nur auf Tourismus und den Export von Agrargütern (Vietnam ist nach Brasilien der weltweit zweitgrößte Kaffeeproduzent), Kleidung und Schuhen, sondern mischt nun auch groß im Elektronikbereich mit. Samsung etwa lässt die Hälfte seiner Handys in Vietnam endproduzieren.

Schallenberg in Vietnam.
Mitte April traf Außenminister Alexander Schallenberg in Hanoi unter anderem den vietnamesischen Premier Phạm Minh Chính.
EPA/Luong Thai Linh

Förderlich für die wirtschaftliche Entwicklung ist auch die aktuelle geopolitische Lage. China wird unter anderem wegen des Taiwan-Konflikts mehr und mehr gemieden, auch der US-chinesische Handelskrieg inklusive Sanktionen sorgt dafür, dass Länder und Unternehmen auf Diversifizierung setzen. "China plus 1" lautet das Motto, man will nicht mehr auf das Reich der Mitte allein angewiesen sein. Und dass sich in Vietnam günstiger produzieren lässt als in China, ist natürlich auch ein Anreiz.

Es wundert also nicht, dass gefühlt täglich Spitzenpolitiker der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi einen Besuch abstatten – nicht selten mit einer Wirtschaftsdelegation im Schlepptau. Allein im April fanden sich unter anderem US-Außenminister Antony Blinken, Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg und der tschechische Premier Petr Fiala dort ein. 

Besuch aus Moskau

Der jüngste Besuch in den letzten Tagen kam allerdings nicht aus dem Westen: Dmitri Medwedew war soeben zu Gast, einst Russlands Präsident und nun stellvertretender Vorsitzender des nationalen russischen Sicherheitsrats, der in letzter Zeit mit heftigen Sagern über den Ukraine-Krieg auffällt. Es zeigt, dass sich Vietnam trotz weiterer Annäherung an den Westen nicht von alten Gefährten lossagen will. Die Beziehung der früheren kommunistischen Bruderstaaten ist auch nach dem Zerfall der Sowjetunion innig. Russland ist der größte Waffenlieferant Hanois und bildet vietnamesische Offiziere aus, auch im Wirtschaftsbereich kooperiert man. Hanoi hat es zudem unterlassen, in diversen UN-Abstimmungen Moskau für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Zumindest versucht man, die Abhängigkeit von Russland in Sachen Waffen zu minimieren. 

Von China würde man sich wohl gerne abkapseln, macht es aus verständlichen Gründen aber nicht. Der große Nachbar im Norden ist das wichtigste Importland Vietnams, man teilt eine knapp 1.300 Kilometer lange Grenze. Hanoi versucht also, im Spannungsfeld zwischen Washington, Peking und Moskau nicht zu sehr Partei zu ergreifen, niemanden zu vergraulen. 

Medwedew in Vietnam
22. Mai 2023: Nguyễn Phú Trọng, der mächtige Generalsekretär der vietnamesischen KP, trifft in Hanoi Dmitri Medwedew, den stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrats. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind weiterhin eng.
IMAGO/SNA

Das Land selbst ist sehr stabil, was auch ein Grund dafür ist, dass sich dort mehr und mehr internationale Firmen niederlassen. An der Allmacht der KP wird nicht gerüttelt, denn der inoffizielle Gesellschaftsvertrag im 100-Millionen-Einwohner-Land lautet: Die Partei sorgt für wachsenden Wohlstand, dafür fordert die Bevölkerung keine Rechte in Sachen Demokratie, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ein. Im jüngsten Pressefreiheits-Index von Reporter ohne Grenzen nimmt Vietnam bei 180 Ländern Platz 178 ein. Die wenigen Journalistinnen und Journalisten, die trotzdem Kritik am Regime üben, erhalten drakonische Haftstrafen. Und auch die Todesstrafe wird im Land noch exekutiert, wie Amnesty International jährlich moniert. Doch die Bevölkerung stört das nicht. Es gebe kaum Proteste im Land, bestätigen westliche Experten in Hanoi. 

Dafür gibt es eine andere Gefahr für den Gesellschaftsvertrag und die Stabilität im Land: den Klimawandel. Erst Anfang Mai wurde in der zentralen Provinz Thanh Hoa mit 44,1 Grad ein neuer nationaler Hitzerekord aufgestellt. "Wir beobachten, dass die Hitze in diesem Jahr früh eingesetzt hat und schlimmer ist als in den vergangenen Jahren", sagte dazu der Chef des Wetteramtes, Nguyen Van Huong, dem Sender "Voice of Vietnam".

Die große Gefahr für das Wachstum

Bis zum Ende des Jahrhunderts wird laut einer Studie von vietnamesischen und französischen Wissenschaftern ein Temperaturanstieg von 1,3 bis 4,2 Grad im Land erwartet. Auch könnte der steigende Meeresspiegel das Mekong-Delta überfluten, die Kornkammer Vietnams. Selbst wenn die schlimmsten Befürchtungen nicht eintreffen, könnte der Klimawandel die vietnamesische Wirtschaft laut Studie 4,5 Prozent Wachstum kosten. 

Um Vietnams Aufstieg nicht zu gefährden, setzt es sich in Sachen Klimawandel ehrgeizige Ziele: Bis 2040 will man aus der Kohlekraft ausgestiegen sein, bis 2050 klimaneutral sein. Um dies zu schaffen, holt man sich Know-how aus dem Ausland, auch aus Österreich. Beim Besuch von Außenminister Schallenberg im April konnte etwa die heimische Firma Andritz Hydro einen Auftrag für die Modernisierung von Pump- und Speicherkraftwerken abschließen. 

Diesbezüglich zeigt man sich also engagiert, und auch innenpolitisch hat sich die Lage nach einer größeren Krise wieder beruhigt. Grundsätzlich thront an der Staatsspitze eine kollektive Führung von vier Personen: der Präsident, der Regierungschef, der Vorsitzende der Nationalversammlung sowie als Primus inter pares der KP-Generalsekretär. Ersterer, Nguyễn Xuân Phúc, trat im Jänner zurück, dazu zwei stellvertretende Regierungschefs. Offiziell war der Grund Korruption, ans Licht gebracht durch die Antikorruptionskampagne des mächtigen KP-Generalsekretärs Nguyễn Phú Trọng.

Machtkampf verloren

Der war 2021 beim Parteikongress zum dritten Mal zum Generalsekretär gewählt worden, obwohl eigentlich nur zwei Amtszeiten erlaubt sind. Das galt als Zeichen dafür, dass der heute 79-Jährige, der als Ideologe gilt, seine Nachfolge nicht klären konnte. Auch hieß es, dass der als Pragmatiker geltende Präsident Phúc Ambitionen auf Trọngs Posten hatte und dessen Absetzung im Jänner nichts mit Korruption zu tun hatte, sondern bedeutete, dass er den Machtkampf gegen Trọng verloren hatte.

Võ Văn Thưởng Präsident Vietnam
Võ Văn Thưởng ist neuer Präsident Vietnams.
AP/Bui Doan Tan

Als Nachfolge wurde Võ Văn Thưởng zum Präsidenten gekürt. Der 52-Jährige gilt als Trọng treu ergebener Parteisoldat. Mit der Beförderung ist er nun auch ein heißer Kandidat, um Trọng beim nächsten Parteikongress 2026 als KP-Generalsekretär nachzufolgen. Der bisherige Favorit war Vương Đình Huệ, Vorsitzender der Nationalversammlung. Es bleibt also spannend im Einparteienstaat. (Kim Son Hoang, 28.5.2023)