Human Brain Project
Human Brain Project
Milliarden von Nervenzellen machen das menschliche Gehirn zu einem leistungsfähigen Organ der Superlative. All seine Rätsel zu entschlüsseln, ist eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft.
Fatih Aydogdu

Wir alle tragen das wohl größte Rätsel der Wissenschaft mit uns herum, ohne uns seiner immensen Leistungsfähigkeit so richtig bewusst zu sein: Das menschliche Gehirn, ausgestattet mit rund 80 Milliarden Nervenzellen und weitaus mehr synaptischen Verbindungen, gilt als eines der komplexesten, wenn nicht das komplexeste Gebilde der Welt. Wissenschaftliche Durchbrüche sorgten zuletzt dafür, dass einige der Geheimnisse unseres Denkorgans endlich entschlüsselt werden konnten.

Die Art und Weise, Hirnforschung zu betreiben, hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Einerseits haben digitale Technologien sowie neue Messinstrumente und Methoden das Feld verändert. Andererseits treiben großangelegte Kooperationen, die auf die gemeinsame Nutzung von Daten und Instrumenten aufbauen, den Fortschritt in ungekanntem Tempo voran.

Im bisher fragmentierten Feld der Gehirnforschung gelingt nun immer mehr der Schulterschluss. Daten und Wissen über verschiedene Ebenen der Gehirnorganisation werden durch den Einsatz neuer Technologien und durch eine enge Zusammenarbeit über Disziplinen und Ländergrenzen hinweg zusammengezogen. Wenige Forschungsprojekte haben diese Entwicklungen in ähnlicher Weise befördert wie das Human Brain Project, das trotz aller Errungenschaften auch von heftiger Kritik begleitet war.

Megaprojekt mit Anlaufschwierigkeiten

Vor knapp zehn Jahren, im Oktober 2013, fiel der Startschuss für dieses Forschungsunterfangen mit nie dagewesenen Dimensionen, das die digitale Hirnforschung in neue Sphären heben sollte. Das Human Brain Project (HBP) ist das teuerste Forschungsprojekt, das jemals von der Europäischen Union unterstützt wurde. Mehr als 500 Forschende von gut 150 Universitäten und Institutionen aus 16 Ländern arbeiteten an dem Projekt mit und publizierten während der zehnjährigen Laufzeit rund 2000 wissenschaftliche Papers.

Zu den großen Erfolgen des HBP gehört etwa ein Gehirnimplantat, das blinde Menschen wieder sehen lässt. Auch chirurgische Eingriffe bei Epilepsie erlebten eine Verbesserung, da digitale Gehirnmodelle dabei helfen, Epilepsieherde präziser zu verorten. Erweitert wurde auch das Wissen über neuronale Mechanismen, die dem Sehen und unserem Gedächtnis zugrunde liegen.

Ungeachtet dieser Erfolge konnte das zu Projektbeginn kolportierte Ziel – die Erstellung eines digitalen Zwillings des menschlichen Gehirns – aufgrund der enormen Komplexität noch nicht umgesetzt werden. Auch standen die Zeichen kurz nach Projektbeginn auf Sturm. In einem offenen Brief brachten 2014 mehr als 700 Forschende ihre Bedenken zum Ausdruck. Die Liste der Kritikpunkte war lang: zu hierarchisch die Organisation, zu exklusiv die Auswahl der Forschungsbereiche, zu optimistisch die Zielvorgaben, zu intransparent die Finanzierung.

Auch österreichische Forschende zogen sich vom Projekt zurück, da ihnen die Ansätze nicht kreativ genug erschienen. Insider sprechen von Routinearbeit, bei der sie ihre eigenen Ideen und Kernprojekte hätten zurückstellen müssen. Nach einem aufsehenerregenden Führungswechsel im Jahr 2016 kam das HBP wieder in ruhigere Fahrwasser.

Kritischer Blick auf Hirnforschung

Die geäußerte Kritik hatte jedoch Stolpersteine in der neurobiologischen Forschung offengelegt, die den Fortschritt in diesem Bereich behindern. Vor einer Generation waren die Neurowissenschaften durch Theorie und Werkzeuge eingeschränkt, schrieben Forschende 2016 zum HBP im Fachjournal "Nature". Heute bestehe das größere Problem darin, bereits verfügbares Wissen als Gemeinschaft gewinnbringend zu nutzen.

"Um effektiv zu sein, müssten sich Kooperationen zunächst auf eine einzige Hirnfunktion konzentrieren, da viele neurowissenschaftliche Zusammenschlüsse daran scheitern, dass die Ziele zu weit gefasst sind", argumentierten die Autoren. Auch kritisierten sie, dass in den Neurowissenschaften eine wettbewerbsorientierte, individualistische Kultur vorherrsche, welche die Standardisierung und die Zusammenarbeit im Forschungsbetrieb unterminiere.

Im Jahr 2020 wurde schließlich ein Durchbruch präsentiert, der von Forschenden nahezu unisono gefeiert wurde: Mit dem Julich-Brain wurde die bisher detaillierteste digitale 3D-Karte der zellulären Architektur des Hirns "von Forschenden für Forschende" geschaffen, wie es in einem HBP-Bericht heißt. Über 24.000 hauchdünne Hirnschnitte wurden dafür digitalisiert, in 3D zusammengesetzt und kartiert. Über die Plattform Ebrains steht diese Landkarte für Wissenschafterinnen und Wissenschafter weltweit zur Verfügung.

Google Maps für das Gehirn

Eines der Hauptergebnisse des Human Brain Project ist die Möglichkeit, Gehirnmodelle anzupassen und zu personalisieren. Einerseits können eigene wissenschaftliche Daten hochgeladen und geteilt werden, andererseits kann in der computergestützten Karte des Hirns auf bestehende Forschungsergebnisse zugegriffen werden. Der bisher vollständigste Atlas des Hirns funktioniere ähnlich wie Google Maps, beschreiben es die an der Entwicklung Beteiligten.

"Arbeit, für die ich früher zwei Tage gebraucht habe, dauert jetzt nur noch zehn Minuten", sagte die Neurowissenschafterin Nicola Palomero-Gallagher vom Forschungszentrum Jülich und der Universität Düsseldorf beim HBP-Abschlussgipfel vergangenen März. Auch Forschende, die selbst nicht am HBP beteiligt waren, sprechen von einem mächtigen Werkzeug für die Wissenschaft, das das Verständnis des menschlichen Gehirns stark vorantreiben werde. Etliche Teilnehmende des Abschlussgipfels strichen zudem die Verbesserungen hervor, die sich durch das HBP für internationale Kooperationen ergeben haben. Man komme aus der Isolation zu einem Grenzen übergreifenden Miteinander, was der Forschung enormen Aufwind verschaffe.

Die Forschenden des HBP erarbeiteten auch ein Positionspapier zur Zukunft der digitalen Hirnforschung, das online zur Diskussion gestellt und um Kommentare von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus aller Welt ergänzt wurde. Rund ein Drittel der Autorinnen und Autoren der neuesten Version stammt von außerhalb der HBP-Community. Die definierten Ziele umfassen die Verbesserung hochauflösender Hirnmodelle, Simulationstools und künstlicher Intelligenz ebenso wie Entwicklungen im Bereich der digitalen Neuromedizin.

Nicht zuletzt sollen all diese Anstrengungen auch zu weiteren Erkenntnissen und dadurch zu neuen Formen des Verständnisses der Gehirnplastizität, der Kognition und des Verhaltens führen – und damit das größte Rätsel der Menschheit Stück für Stück durchschaubarer machen. (Marlene Erhart, 4.6.2023)