Festwochen Pensotti Das Stück
Schauspieler spielen die Bewohner einer argentinischen Kleinstadt, die ihrerseits Warschauer spielen, die keine gewesen sind: Mariano Pensottis "La Obra (Das Stück)" steckt voller Tücken der Uneigentlichkeit.
Nurith Wagner-Strauss

Aus Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert ist eine Geschichte voll abgründigen Witzes überliefert. Ein chinesischer Künstler zeigt Freunden eine Parkansicht, die er haarfein gemalt hat. Zu sehen gibt es auf ihr ein Haus mit spaltbreit offener Tür. Als sich die Betrachter nach dem Künstler umdrehen, ist dieser fort und in sein eigenes Bild hineingeschlüpft. Behände lächelnd huscht er durch den schmalen Spalt ins Haus.

Ein vergleichbar trügerisches Bauwerk steht dieser Tage auf der Bühne des Wiener Jugendstiltheaters. Ein halboffener Zylinder dreht sich gemächlich. Sein Inneres birgt den libanesischen, nunmehr in Lyon ansässigen Regisseur Walid (Rami Fadel Khalaf), der, aufgrund diverser Zufälligkeiten, nach Argentinien reist. Dort wird er posthum Zeuge eines makabren Passionsspiels.

La Obra, das Stück: So lautet zunächst der Titel der Festwochen-Premiere, die der Argentinier Mariano Pensotti gemeinsam mit der "Grupo Marea" geschaffen hat. Doch das Werk, eigentlich ein Exempel für biederes Erzähltheater, hat es in sich. Es enthält, wie die berühmte Puppe in der Puppe, ein weiteres, vor leidvoller Größe förmlich platzendes Lebensdrama.

Des Stückes Kern handelt vom KZ-Überlebenden Simon Frank. Der Pole, betroffener Zeuge unvorstellbaren Leides, nutzt seinen Aufenthalt in der argentinischen Kleinstadt Coronel Sivori, um das eigene Leben nicht etwa zu "dramatisieren", sondern es in einem stetig wachsenden Prozess lückenlos aufzuführen. Auf einem Dorfacker wird Warschau nachgebaut (wie im Weltkriegs-Museum in Danzig!). Die lieben Mitbewohner schlüpfen hübsch verteilt in die Rollen der Opfer wie der NS-Büttel.

Reich dekorierte Torte

Und weil wir Wiener Festwochen-Besucher dieser seltsamen Begebenheit bedingungslos Glauben schenken sollen, erzählen die Mitspielenden von damals herrlich entspannt, gleichsam als Überlieferer ihrer selbst, vom kollektiven Mummenschanz. Sie spielen Backgammon, schlürfen tassenweise Mokka und schneiden reich dekorierte Schokoladetorten an: Nichts scheint mehr gesunde Lockerung zu bewirken als die (behauptete) Darstellung des furchtbarsten Grauens, das Europa in den vergangenen Jahrhunderten erlebt hat.

Natürlich entspringt dies alles dem unklaren Wähnen des eingangs erwähnten Walid: Dieser trägt seinerseits schwer an der Bürde des libanesischen Bürgerkriegs, dessen gewaltsames Opfer der eigene Vater wurde. Man meint, Knick für Knick, der Errichtung eines reichhaltigen Labyrinths beizuwohnen. Ein Autor wie Julio Cortázar hätte sich ein solches Geschlängel womöglich auszudenken vermocht, ein Jorge Luis Borges oder Antonio Moresco.

Doch der verhohlene Irrsinn dieser Spielanordnung liegt im Erweis allseitiger Absurdität: Niemand vermag das "Leben" in seiner Gesamtheit szenisch darzustellen – es sei, er akzeptiert, dass wir alle nur von jemandem geträumt werden, der größer ist als wir (Hugo von Hofmannsthal besaß dergleichen Intuitionen). Mariano Pensotti ist ein Zauberer in dem eingangs beschriebenen Sinne. Seine sechs Darstellerinnen und Darsteller erzählen in der abgeklärtesten Weise von einer Begebenheit, die so unerhört ist, dass sie kaum wahr sein darf.

Weg des Making-of

Er wählt den Weg eines Making-of, um die Keuschheit seines vermeintlich dokumentarischen Ansinnens zu wahren. Die Spielszenen besitzen allesamt den Zeigegestus des Brecht’schen Theaters. Sie sind schlicht und zugleich abgefeimt, sie blenden die heutige Realität und ein "legendäres" Gestern ineinander, und sie schmeicheln mit wahrhafter Tücke einem Publikum, das, an Netflix geschult, sämtliche Spiegelstadien des Fiktionalen summa cum laude durchlaufen hat.

Den KZ-Überlebenden Simon Franck hat es übrigens niemals gegeben. Oder doch? Der Jubel war zurecht groß für die Beteiligten an diesem kleinen, meisterlichen Stück-im-Stück-im-Stück. Sie alle glichen Malern, die inmitten des gemeinsam von ihnen erschaffenen Bildes stehen - und die Betrachter selig winkend grüßen. (Ronald Pohl, 3.6.2023)