Hubert Obojes hat sein Fahrradgeschäft in der Dresdner Straße in Wien.
Tom Rottenberg

Bisher, sagt Hubert Obojes, habe sich niemand gemeldet. Und ja, ein wenig verwundert sei er deshalb schon. Schließlich habe ihn "der Horst" zwar nicht genötigt, aber doch intensiv gedrängt, seine Fahrräder in den Newsletter zu stellen. Weil die Frage ja wirklich jedes Jahr aufpoppe. Spätestens nach der Ausfahrt: wenn da auf diversen Bike-Plattformen und in den sozialen Medien gejubelt wird. Wenn Fotos Geschichten von einer anderen Zeit erzählen. Einer Zeit, von der Hubert Obojes selbst sagt, dass nicht alles besser war. Auch nicht beim Radfahren. Aber es sah eben anders aus.

Low- statt hightech

Schöner? Geschmackssache. Aber auf alle Fälle archaischer, staubiger und – aus heutiger Sicht – lowtech. Obwohl das nicht stimmt: Körbchenpedale, geklebte Reifen und Schalthebel an den blödesterreichbaren Stellen waren damals nämlich State of the Art im Spitzensport. So, wie es elektronische Schaltwerke und Leistungsmessgeräte heute sind. Hightech also. Aber aus heutiger Sicht … egal. Auf alle Fälle hat sich bei Helmut Obojes bisher noch niemand gemeldet, um sich bei ihm für das Wochenende vom 17. und 18. Juni ein altes Rennrad auszuborgen. "Vintagegurken" nennt sie Obojes – wohl auch, um der Überhöhung etwas entgegenzusetzen.

Eine schöne Auswahl an Vintagerädern, die Obojes verleiht und verkauft.
Tom Rottenberg

"Der Drehmoment" heißt seine Werkstatt in der Dresdner Straße. "Ja, 'der'", betont der 61-Jährige, und Radgeschäft sei die auf Alltagsservices der regionalen Anrainerschaft fokussierte Hütte eigentlich keines. Aber: Ja, die alten Rennräder in der Auslage würde er schon verkaufen. Oder eben herborgen. Um diese Räder geht es. Nicht nur in dieser Geschichte, sondern Mitte Juni auch im Weinviertel: weil man bei der In Velo Veritas nur mit "Vintagegurken" mitfahren darf. Natürlich nicht nur mit jenen aus Obojes Schaufenster, sondern grundsätzlich: In Velo Veritas ist eine Retro-Ausfahrt mit alten, schönen Rennrädern.

Solche Ausfahrten boomen. Aus 1.001 Gründen. Wegen der Hommage an Sport und Leidenschaft, an Design und Technik, wegen des Spürens und Erlebens von Landschaft auf dem Rad, wegen des Traumes von einer heilen Welt, wegen der Freude am Schrauben – vielleicht ja auch am Verkleiden und am kleinen Eskapismus in eine mutmaßlich amikalere (Sport-)Welt. Nicht nur im Weinviertel. Denn die Mutter aller Retro-Ausfahrten kommt aus Italien.

Startpunkt Eroica 2002

Dort, in Gaiole in Chianti, fuhren 2002 ein paar Spinner mit restaurierten Stahlrennrädern aus den 1950er- bis 1980er-Jahren – aber auch älterem Gerät – durch die Toskana. Auf "strade bianchi", Schotterstraßen. Der Name war Programm: Eroica. Die Heldensaga wurde zur Dachmarke. Allein beim Hauptevent im Oktober starten heuer über 5.000 Fahrerinnen und Fahrer über fünf, 46, 81, 106, 135 oder 209 Kilometer. Manche Distanzen sind ein Jahr im Voraus ausgebucht. In Italien, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich gibt es insgesamt 15 Eroica-Ableger.

Doch auch ohne dieses Siegel fahren Freundinnen und Freunde historischer Stahlrahmen in ganz Europa organisiert aus – bei In Velo Veritas etwa heuer bereits zum elften Mal. "Schuld" daran sind drei Radverrückte, die sich bei der Eroica den "Das wollen wir auch"-Virus holten. Und statt zu träumen, wurden sie tätig: Über die "Legende von Stahl und Wolle", die der eingangs als "der Horst" vorgestellte Horst Watzl mit Martin Friedl und Michael Mellauner geschaffen hat, wurde schon viel geschrieben. Auch hier. Es gibt einen Kinofilm. Und über die (fast ausschließlich männlichen) Schrauber und Sammler alter Rennräder schwadroniert das Feuilleton gern.

Ein historisches Bild vom historischen Radrennen In Velo Veritas aus dem Jahr 2014.
In Velo Veritas

Was da übersehen wird: Neben den 50-plus-Herren macht mittlerweile eine junge, bunte und durchaus weibliche Klientel einen Gutteil jener 800 Menschen aus, die im Weinviertel knackig, aber nicht kompetitiv Runden über 70, 140 und 210 Kilometer fahren. Nicht kompetitiv? Ja: Gemeinsam genießt man neben Gesellschaft, Fahrt und Landschaft nicht zuletzt die Laben. Also die Versorgungs- und Pausenstationen mit regionalen Spezialitäten und Herrlichkeiten an malerischen Plätzen: Entschleunigung auf dem Rennrad also. Das funktioniert hervorragend.

Das Problem an der Sache liegt anderswo. Es zeigt sich nach der Fahrt. Angesichts der Fotos, Filme und Berichte: Die machen Lust aufs Mitfahren. Nur haben halt nicht alle, die über Schotter-, Kopfstein-, Sand- und Nebenstraßen mit dabei sein wollen, das passende Rad. Oder jemanden im Freundes- oder Bekanntenkreis, der a) eines besitzt, das b) in fahrtauglichem Zustand ist, und es dann sogar c) auch noch herborgen würde.

Anspruchsvolle Strecken

Entweder weil sie damit selbst durchs Weinviertel fahren. Oder weil solche Räder Herz-(und Museums-)Stücke sind. Mit Hingabe, Liebe, hohem Zeit- und Materialsuchaufwand instandgesetzt oder -gehalten. Darum sind die Dinger ja so schön. Herzausreisserschön. So etwas drückt man unkundigen Laien nicht in die Hand. Schon gar nicht, wenn die damit über Stock und Stein brettern wollen. Auf Straßen und Wegen, auf denen Rennradfahrer von heute ihr Gerät nicht schieben, sondern schultern würden.

2022 fuhren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von In Velo Veritas durch Wolkersdorf.
Jamileh Azadfallah / In Velo Veritas

Dieses Klagelied kennen "der Horst" und seine Kumpanen gut. Deshalb haben sie sich heuer etwas einfallen lassen: Weil beim Drehmoment "Vintagegurken" stehen, die Hubert Obojes auch übers Wochenende vermieten würde, schrieben sie das Anfang Mai in den In-Velo-Veritas-Newsletter. Doch, oh Wunder: Niemand reagierte darauf. Ist an dem Hype um die Retro-Renner also nichts dran? Interessieren sie niemanden?

Letzteres verneint Hubert Obojes: War es vor ein paar Jahren noch einfach, vernachlässigte Stahlrenner günstig zu finden, hat Obojes die Suche längst eingestellt. "Ich müsste alle paar Minuten die Suchagenten auf Willhaben checken – und dann sehr schnell zuschlagen." Die Preise seien aufgrund der Nachfrage massiv gestiegen, auch für authentische Komponenten, Reifen und Ersatzteile: "Für Liebhaber ist das okay, als Geschäftsmodell rechnet es sich aber nicht, wenn man seriös kalkuliert." Mag stimmen – aber wieso niemand nach Leih-"Vintagegurken" fragt, erklärt es trotzdem nicht.

Die Sache mit den Eulen und Athen

Das Problem dürfte anderswo liegen und ein klassisches Bubble-Kommunikationsdilemma sein. Früher sprach man da von Eulen und Athen: Denn wer den In-Velo-Veritas-Newsletter bezieht, erst recht wer ihn tatsächlich ganz bis zum Ende liest, darf getrost als "wissend und eingeweiht" betrachtet werden. Liest langfristig mit. Ist eventuell selbst schon mitgefahren. Hat ein Stahlrad – oder weiß, wo und wie er oder sie eines bekommt.

Mitunter fahren auch ganz alte Rennräder bei der Veranstaltung mit.
Jamileh Azadfallah / In Velo Veritas

Im Gegensatz zu jenen, die kurzfristig ausgesandte Social-Media-Posts vom (meist soeben verpassten) Event sehen. Und dann jammern. Zu Recht. Weil, diese persönliche Anmerkung sei gestattet, das Mitfahren bei der In Velo Veritas wirklich etwas Feines ist – aber Ungeübten auch wehtun kann: weil "Vintagegurken" ganz besondere Fahrräder sind. In jeder Hinsicht. (Tom Rottenberg, 10.6.2023)