Steve Carell trägt schick Schirm in Wes Andersons Wüstenkaff "Asteroid City".
Pop. 87 Productions LLC

Wenn bei Künstlern im Lauf einer Karriere allmählich ein bemerkenswertes Gesamtwerk erkennbar wird, dann schlägt auch schon die Stunde der Interpreten. Sie suchen nach Urszenen, Mustern und Schlüsselstellen. Bei dem Filmemacher Wes Anderson könnte man sich eine Urszene so vorstellen, dass er beim Demel – so wie Obelix in den Zaubertrank – in eine Punschschüssel gefallen ist.

Das ist zwar ein bisschen gewagt, schließlich ist allgemein bekannt, dass Anderson aus Texas kommt und auftritt wie ein New Yorker Hipster. Aber aus einem seiner besten Filme, The Grand Budapest Hotel, wissen wir, dass dort hofbäckermeisterliche Mehlspeisen eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben.

Und wenn man ein wenig zuspitzt, dann könnte man auf jeden Fall argumentieren, dass die Welt bei Anderson oft ein bisschen vitrinig strukturiert ist, ebenso wie zum Beispiel in ehrgeizigeren Konditoreien die Feinheiten präsentiert werden. Farblich lassen sich da auch gewisse Tendenzen feststellen, ableitbar von den hellen Anzügen, die Anderson bevorzugt trägt, ins Pastellige.

Zurück in die Staaten

Mit seinem neuen Film Asteroid City deutet Anderson nun aber an, dass es auch noch einige andere Urszenen für ihn gegeben hat. Dieses Mal liegt der Akzent wieder stärker auf seiner eigenen Heimat, nachdem er zuletzt mit The French Dispatch ein komplexes Bild seiner Frankophilie abgegeben und davor schon eine Neigung zu exotischen Schauplätzen kultiviert hatte.

Asteroid City spielt im Südwesten der USA in den 1950er-Jahren. In einer Wüstengegend, die eigentlich nach Außenaufnahmen verlangt, die Anderson aber aussehen lässt, als wäre sie im Studio gebaut. In einem Kaff, das im Wesentlichen aus einem Diner an einem Bahnübergang im Nirgendwo besteht, treffen ein paar melancholische Rumpffamilien zusammen. Alle sind um einen Verlust gebaut, alle haben ein Kind, das sich als "brainiac" erwiesen hat, also als besonders verkopft. Nerds halt, wie Wes Anderson ja auch einer ist.

Rund um eine Preisverleihung an künftige Astronomen oder eine Spitzenforscherin, die aber jetzt noch in kurzen Hosen scheue Blicke aufs andere Geschlecht riskieren, inszeniert Anderson eine gewohnt elaborierte Geschichte, mit mehr als einem Dutzend Stars aus seiner Kinofamilie von Jason Schwartzman über Scarlett Johansson oder Jeff Goldblum bis zu Neuzugang Tom Hanks.

Focus Features

Von der Marke zum Kult

Das alles geschieht in der üblichen Ästhetik, die sich durch einen hohen Wiedererkennungswert auszeichnet. Würde man 100 Menschen, die schon einmal einen Film von Anderson gesehen haben, in ein Kino setzen und ihnen ohne Vorinformationen ein neues Werk von ihm anonym präsentieren, die meisten würden wahrscheinlich nicht einmal eine Minute brauchen, um es ihm zuzuordnen.

Anderson ist ästhetisch eine Marke. Ja mehr noch, er ist Kult. Sehr zu Recht. Und längst proliferiert dieser Kult durch die sozialen Medien und digitalen Kulturen, in denen alle großen Stoffe der Gegenwart (von Herr der Ringe bis Star Wars) durch den Anderson-Kakao gezogen werden. Es gibt sogar schon einen Begriff dafür: Sie werden "wesandersonized", also wesandersonisiert.

Ein KI-generierter Trailer, der "Herr der Ringe" wesandersonifiziert.
Curious Refuge

Populäre Ästhetik, radikale Experimente

So stellt Anderson ein schönes Beispiel für einen Fall dar, in dem ausgeprägte Individualität sehr populär werden kann, ohne deswegen Kompromisse eingehen zu müssen. Im Gegenteil nützt Anderson die Freiräume, die er sich erarbeitet hat, für durchaus radikale Experimente. In Asteroid City geht es nicht nur darum, dass ein Witwer (Schwartzman) und eine Witwe (Johansson) vielversprechende, dabei aber immer skeptische Blicke austauschen. Anderson bettet das in eine Art Medienarchäologie des mittleren 20. Jahrhunderts ein:

Der in den Farbtönen von Nevada gehaltene Plot ist zugleich ein Theaterspiel in Schwarzweiß, das quasi live für eine Bühneninszenierung geschrieben wird, wie sie im frühen TV handelsüblich waren. Anderson macht aus diesem Spiel der Ebenen seine eigene Relativitätstheorie, findet aber innerhalb dieses Settings so viele Momente wahrer Empfindung, dass man von einem Meisterwerk sprechen muss.

Und er schafft es auch noch, sich mit einer kleinen Hommage an die Ära der schlechtesten guten Filme aller Zeiten (von Ed Wood bis Roland Emmerich) selbst zu positionieren: Mit fliegenden Untertassen findet man sogar Möglichkeiten, sich aus Punschschüsseln zu befreien. Wes Anderson steht nun der Kosmos offen. Er wird ihn wahrscheinlich in Raumschiffen aus Eierbiskotten befahren. (Bert Rebhandl, 13.6.2023)