Gosselin Extinction
Albertine (Carine Goron) und Florestan/Fridolin (Joseph Drouet) auf dem Maskenball in Arthur Schnitzlers "Traumnovelle", die in "Extinction" Teil eines mysteriösen Abgesangs auf das 20. Jahrhundert wird.
Simon Gosselin

Julien Gosselin kleckert nicht. Der 36-jährige französische Regisseur ist auf aufsehenerregende Mindestgrößen spezialisiert. Die Festwochen-Koproduktion Extinction – sie hatte am Montag in der Halle E im Museumsquartier Premiere – verschlang ganze fünf Stunden. Wuchtet Gosselin Romane auf die Bühne, so sind auch das Schwarten, etwa Bolaños 2666 oder Houellebecqs Elementarteilchen.

Unbescheiden war im Vorjahr auch sein Einstand an der Volksbühne Berlin betitelt: Sturm und Drang: Die Geschichte der deutschen Literatur. Na? Immerhin galt es, an Ort und Stelle die Castorf-Lücke zu füllen. Das ist Gosselin mit Martin Wuttke als Goethe auch gelungen. Die Reaktionen waren indes gemischt, von leerem Technik-Bombast war die Rede, aber auch von enormer Spiellust.

Ähnliches trifft nun auch auf Gosselins Österreich-Debüt zu, das nach Stationen u. a. in Avignon ab September ebenfalls ins Volksbühne-Repertoire wechselt – Gosselin ist dort assoziierter Regisseur. Bei Extinction hantiert der Theatermacher ebenfalls mit großen Begriffen und filtert aus der Literatur Arthur Schnitzlers und Thomas Bernhards ein Projekt, das im Scheitern der Moderne den weiteren Untergang Europas zu erkennen meint.

Mitmachen beim Rave

Der französische Titel Extinction bezieht sich auf Thomas Bernhards Roman Auslöschung aus dem Jahr 1986, in dem der Protagonist Franz-Josef Murau anlässlich des Unfalltodes seiner Familie über das verlotterte, dem Niedergang geweihte Österreich monologisiert.

Gosselin treibt viel Aufwand für diesen auseinanderklaffenden und doch soghaften, sich bis zum Schluss hin gedanklich errichtenden Abend, dem schätzungsweise drei Viertel des Publikums bis kurz nach Mitternacht die Treue hielten. Es beginnt mit einem Rave, bei dem das Publikum von hämmernden Beats (Musik: Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde) auf die Bühne gelockt wird. Via Kameras schält sich aus dem Nebel des Clubs eine Person heraus, die Schauspielerin Rosa Lembeck, die als weibliche Murau-Variante in Erscheinung tritt, eine melancholische Gestalt, die sich das giftige Erbe der Wolfsegger Familie aus dem Leib tanzen will und die mit ihrer Freundin (Victoria Quesnel) über Literatur und das Schreiben lamentiert. Da blitzt Gosselins Witz auf, wenn sie (als Alter Ego Thomas Bernhards) selbstlobend meint, sie sei der Marquis der Prosa.

Der Rave endet nach 45 Minuten abrupt und entlässt das Publikum brutal in eine dreißigminütige Pause, bevor es mit dem zweieinhalbstündigen Mittelteil weitergeht, in dem aus Schnitzler-Texten (Komödie der Verführung, Traumnovelle und Fräulein Else) sowie Hofmannsthals Chandos-Brief eine Wiener Untergangsgesellschaft filmisch in Szene gesetzt wird, der in nächtlichen Jugendstilkulissen Kameraleute hinterhersprinten, um Nahaufnahmen in Schwarz-Weiß für die große Leinwand zu generieren.

In den nur wenig einsehbaren Räumen wird etwas Apokalyptisches erahnbar – geschrieben wird das Jahr 1913, während im Bühnenvordergrund offene Flammen dramatisch flackern. Ein unnachgiebiger Soundtrack verleiht dem Ganzen das mysteriös-unheilvolle Flair aus Kubricks Eyes Wide Shut. Das Schnitzler-Personal – Ärzte, Schauspielerinnen, Musiker, Baroninnen, Gelehrte – räsoniert in den düsteren Salons über Kunst und sich selbst und glaubt nicht mehr an die Zukunft.

Hypnose, Haschisch

Gosselin lässt die Zeit filmrealistisch aufleben, verankert die Jahrhundertwende thematisch mittels Psychoanalyse, Expressionismus, Trends wie Hypnose oder Haschisch sowie Disputen über Mahlers Kindertotenlieder. Die Erde beginnt alsbald tatsächlich zu beben und die Kamera stellt in einem weiteren harten Schnitt auf Farbe um und filmt ein makaberes Volksmusikringelspiel in Tracht und mit Hackebeil. An dem Punkt wurde bereits so viel Albtraumhaftes spürbar, dass das Massaker nur logisch erscheint.

Mit der Fortsetzung von Bernhards Auslöschung in Teil drei führt die Inszenierung schließlich in die Gegenwart. Rosa Lembeck als Murau hebt da auf leergeräumter Bühne zur Bernhard’schen Suada an, die den lädierten Staat samt seinen Nazi-Familien in einem gewaltigen Sprechakt aufrollt. Viel Stoff, ein wenig Kitsch, große Sprünge, satte Technik – ein Abend, der am Ende aber in sich stimmig wird und der zeigt, wie notwendig es ist, mit Literatur freihändig umzugehen. Size matters natürlich auch. (Margarete Affenzeller, 14.6.2023)