Weizenfeld aus der Luft
Die Ukraine ist ein wichtiger globaler Produzent von Weizen.
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Eine zunehmend globalisierte Wirtschaft wurde in den letzten Jahrzehnten immer effizienter und verlässlicher in der Produktion und Lieferung von Waren. Dann kam die Corona-Pandemie, und seither zeigt sich die Weltwirtschaft überraschend sensibel. Ein Beispiel ist der globale Engpass an Computerchips der letzten Jahre.

Eine Forschungsinstitution, die schon zu Beginn der Pandemie vor dem möglichen Zusammenbruch von Lieferketten warnte, ist der Complexity Science Hub Vienna. Das Zentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, große Datensätze systematisch aufzubereiten und so etwa komplexe wirtschaftliche Systeme realistisch zu modellieren. Nun untersuchte man die Folgen des Ukrainekriegs auf die globale Lebensmittelproduktion und veröffentlichte die Ergebnisse im Fachjournal "Nature Food".

Dazu analysierte das Team 192 Länder und Regionen und konzentrierte sich auf Produktion und Handel von 125 Lebensmitteln. Den Normalzustand stellte man einer Reihe von hypothetischen Szenarien mit Produktionsausfällen gegenüber.

Zerstörter Schweinestall Cherson, Ukraine, nach russischem Angriff
Ein durch einen russischen Angriff zerstörter Schweinestall in Cherson im Mai 2023.
IMAGO/Pacific Press Agency/LevxRadin

Erstmals indirekte Effekte abgebildet

Neu an der Studie sei der Detailreichtum, sagt Stefan Thurner vom Complexity Science Hub. "Bisherige Studien konzentrieren sich oft auf direkte Abhängigkeiten und vernachlässigen indirekte Abhängigkeiten, die sich daraus ergeben, dass wesentliche Inhaltsstoffe nicht verfügbar sind. Das erschwert die umfassende Bewertung des globalen Lebensmittelsystems."

Das Team entwickelte also ein ausführlicheres Modell, das auch indirekte Abhängigkeiten abbildet. "Dieses Modell ermöglicht es uns, Schocks für bestimmte Produkte und Länder zu simulieren und die nachfolgenden Auswirkungen auf die gesamte Lieferkette genau zu beobachten", erklärt Thurners Kollege Moritz Laber.

Das überraschende Ergebnis: Über indirekte Zusammenhänge verursachte Effekte sind oft stärker als die direkten Folgen. Ein durch den Ausfall der ukrainischen Schweinefleischproduktion verursachter "Schock" in der Lebensmittelversorgung hätte etwa in Südeuropa nur einen Rückgang in der Verfügbarkeit von Schweinefleisch von etwa einem Prozent zur Folge, ein Ausfall der Maisproduktion würde sich aber in einem Rückgang von 13 Prozent niederschlagen. In Österreich wären durch einen Ausfall der ukrainischen Maisproduktion 28 verschiedene Nahrungsmittel betroffen.

Globale Verwerfungen

Gravierendere Folgen hätte das Worst-Case-Szenario eines Totalausfalls der landwirtschaftlichen Produktion in der Ukraine, berichtet das Team. Der Rückgang bei der globalen Verfügbarkeit von Getreide, insbesondere Mais, würde bis zu 85 Prozent betragen. Bei Speiseölen wäre mit einem Rückgang von fast 90 Prozent zu rechnen. Auch die Fleischproduktion wäre betroffen. Besonders stark wären die Auswirkungen in Südeuropa, Westasien und Nordafrika.

Thurner betont die hohe Verlässlichkeit dieser Abschätzungen: "Die zugrundeliegenden Daten stammen von der FAO." Das ist die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. "Die haben einen sehr guten Überblick, welches Land wie viel an Nahrungsmitteln produziert." Es gebe Daten zu einigen hundert Nahrungsmitteln – konkret, wie viel exportiert, im Land verbraucht und wie viel verwendet wird, um andere Nahrungsmittel zu produzieren. Thurner nennt als Beispiel den Mais, der an Schweine verfüttert wird. "Diese Daten wurden dann mit zusätzlichen Datensätzen angereichert."

Die Hand eines Afrikaners hält Getreidekörner
Getreidekörner in der Hand eines äthiopischen Bauern in Dobola. Menschen in Afrika sind von steigenden Getreidepreisen durch Engpässe besonders stark betroffen.
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Zunehmende Instabilität

Wird es in Zukunft also öfter zu Engpässen bei wichtigen Produkten kommen? "Ja, ich glaube, das Thema wird uns mindestens zehn Jahre begleiten", sagt Thurner. "Es kann sich auch in ein paar Punkten verschärfen, wenn Spannungen zwischen Weltregionen zunehmen." Die Corona-Pandemie sei zwar nicht der Auslöser, habe die Probleme aber sichtbar gemacht.

"Bei Corona hat man gesehen, wie sehr es auf Details ankommt. Wir denken immer in Märkten – es gibt einen Markt für dieses oder jenes Produkt, und wenn wir es hier nicht bekommen, bekommen wir es eben woanders", sagt Thurner. Die Wirklichkeit sei komplexer. "Es war auch ein Augenöffner, wie wichtig die Details sind und wie anfällig wir eigentlich sind."

Den Grund für die beobachtete Instabilität sieht Thurner aber woanders. "In den letzten 30 Jahren ist die Weltwirtschaft dramatisch effizienter geworden", sagt der Forscher. Das sei mit einer Reduktion der Puffer, Speicher und Lager einhergegangen. Seither sei man mehr denn je auf einen kontinuierlichen Fluss von Waren angewiesen. Wenn dieser stoppe, gebe es keine Reserven, um die Effekte abzufedern. "Es ist immer zu Lieferausfällen gekommen, aber jetzt sehen wir sie, weil sie sofort durchschlagen", betont Thurner. Er plädiert dafür, Lieferketten besser zu überwachen, um Firmen frühzeitig vor drohenden Ausfällen warnen zu können. (Reinhard Kleindl, 15.6.2023)