Kevin Spacey bei einem Auftritt in Italien im Jänner 2023.
AP

Versuchen wir einmal ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, eine Schauspielerin steht bald wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung vor Gericht. Sie ist nicht mehr jung, über 60 – und lesbisch. Das hat sie vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Doch vor wenigen Jahren wurde der Vorwurf laut, sie habe 1986 eine damals 14-Jährige sexuell belästigt. Es meldeten sich weitere 15 Frauen, die von der Schauspielerin belästigt worden seien. Nun startet der Prozess – und eine große deutsche Wochenzeitung bildet die Schauspielerin gleich zweimal auf dem Cover ihres Magazins ab. Einmal in Denkerpose, einmal mit in den Nacken gelegtem Kopf und genüsslich geschlossenen Augen. Einer Pose, die an Oralsex-Filmszenen erinnert.

Vorwürfe einordnen

Sie können sich das nicht vorstellen? Es ist ein altes feministisches Gedankenexperiment, einfach mal das Geschlecht auszutauschen, um zu sehen, wie sich eine Geschichte dadurch verändert – und sie allein dadurch surreal wirkt. Denn in Wahrheit ist es ein Mann auf einem Cover. Es ist Kevin Spacey auf dem aktuellen "Zeit-Magazin"-Cover. Der Prozess und die beschriebenen Vorwürfe betreffen auch keine Frau, sondern ihn. Spacey weist die beschriebenen Vorwürfe, um die es Ende Juni vor Gericht geht, zurück. Bei dem Zivilprozess wegen der Vorwürfe von Antony Rapp, der als 14-jähriger von Spacey belästigt worden sei, wurde Spacey freigesprochen.

Zu den beiden Bildern von Spacey werden noch zwei Zitate von ihm am Cover abgedruckt: "Ich habe wirklich versucht, kein Arschloch zu sein", und "Aber ich glaube, in gewissem Maße war ich ein Arschloch". Ein Arschloch also. Es ist ein gewisses Einsehen, dass da einiges passiert ist, was "irgendwie halt nicht okay" zu sein scheint. Aber "sexuelle Nötigung"? Um Himmels willen, nein! Jetzt übertreiben wir aber mal nicht. Meine Güte, er war halt ein bisschen ein Arschloch.

Es ist relevant, ob jemand wegen sexueller Nötigung verurteilt wird oder nicht. Und trotzdem: Kann man die Vorwürfe von mehr als einem Dutzend Menschen einfach ignorieren? Wie geht man als Medium damit um? Die "Zeit" hat sich entschieden, Spacey als Charismatiker abzubilden, der über sein "Arschlochverhalten" philosophiert, als wäre das eine lässliche Sünde.

Das ist ein Privileg für weiße Männer – für alle anderen wäre derartiges kaum vorstellbar.

Millionen für Amber?

Und noch etwas ist unvorstellbar, der Zusammenhang ähnlich: Wo ist eigentlich der 20-Millionen-Dollar-Werbedeal für Amber Heard? Das ist ein berechtigte Frage angesichts des hässlichen öffentlichen Gerichtsverfahrens zwischen Johnny Depp und Amber Heard im Jahr 2022. Es sei ein Versuch gewesen, Depp zu vernichten, zu verleumden, zu "canceln", hieß es damals ständig. Gekommen ist es anders. Heute lesen wir von einem enorm lukrativen Werbedeal für Depp mit der Luxusmarke Dior. Er war schon zuvor das Gesicht von "Dior Sauvage" und konnte in unzähligen Parfümerien und auf Werbetafeln als irre männlicher Mann in der Wildnis bewundert werden.

Zur Erinnerung: Seine Ex-Frau Heard beschrieb sich 2018 in einem Essay in der "Washington Post" als Opfer von "häuslicher Gewalt" – ihr Ex Johnny Depp wurde darin nicht namentlich genannt. Zeitlich kann man das allerdings auf ihre Zeit mit Depp einordnen. Depp verklagte sie wegen Verleumdung auf 50 Millionen Dollar, von Heard gab es eine Gegenklage auf 100 Millionen. Im Prozess im Frühjahr 2022 wurde die offenbar schreckliche Beziehung öffentlich seziert, Heard berichtete von Gewalt, Depp auch. Depp hatte übrigens begonnen zu klagen. Er klagte schon davor die britische "The Sun", weil es in einem Artikel geheißen hatte, er habe seine Ex-Frau Heard körperlich misshandelt, er wurde darin außerdem als "Frauenschläger" bezeichnet. Der Richter entschied 2020, der Inhalt des Textes sei "im Wesentlichen wahr", und wies Depps Klage ab.

Offener Brief gegen offenen Brief

Eineinhalb Jahre später machten sich Unmengen von Depp-Fans vor dem Gerichtsgebäude in Virginia für Depp stark, jubelten ihm zu, wenn er zur Verhandlung kam. Und Millionen machten von daheim aus Heard im Netz fertig. Mit einem offenen Brief reagierten schließlich 200 Prominente und Frauenrechtsgruppen auf diesen unbändigen Hass. "Alle sollten in der Lage sein, Intimpartner und sexuelle Gewalt anzuzeigen, ohne belästigt zu werden." Dabei hatte sie ihn nicht einmal angezeigt, vielmehr hatte sie auf seine Klage mit einer Gegenklage reagiert. Es gab übrigens noch einen anderen offenen Brief, einen mit dem Titel "I stand with Johnny Depp". Für ihn und "alle männlichen Opfer häuslicher Gewalt". Er wurde 14.000-mal unterschrieben.

Laut WHO ist Gewalt eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen, der Großteil der Gewalt gegen Frauen geht vom Partner oder Ex-Partner aus. Eine Auswertung des deutschen Bundeskriminalamts für 2022 zeigte, dass 80 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt Frauen sind. Also: Wo ist ihr 20-Millionen-Dollar-Werbevertrag?

Amber Heard lebt inzwischen in Spanien, in einem Tiktok-Video erzählte sie einem Paparazzi, sie wolle weiterhin an ihrer "Filmkarriere festhalten". Für Johnny Depp läuft es jetzt schon bestens, er spielte etwa die Hauptrolle in dem Film "Jeanne du Barry", der im Mai der Eröffnungsfilm in Cannes war. Und wirbt weiterhin für Unsummen für den Duft der Männlichkeit. (Beate Hausbichler, 17.6.2023)