Wissenschaftliche Großexperimente haben eine Tradition in Bezug auf Verzögerungen und Überschreitungen des Kostenrahmens. Die Entwicklung des James-Webb-Weltraumteleskops brauchte etwa doppelt so lang wie ursprünglich geplant und kostete das Zehnfache, bevor es seinen Flug ins All antreten konnte. Das Projekt wurde letztlich zum Erfolg, wie spektakuläre Bilder und unzählige neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen.

Doch mit Kosten von etwa zehn Milliarden Dollar ist es vergleichsweise günstig. In den Schatten gestellt wird es vom internationalen Kernfusionsexperiment Iter. Bereits 2018 war von Gesamtkosten in einer Höhe von 22 Milliarden Dollar (rund 20 Milliarden Euro) die Rede. 2006 waren noch fünf Milliarden Dollar veranschlagt gewesen. Iter soll den physikalischen Prozess der Verschmelzung von Wasserstoffatomen, der auch die Sonne strahlen lässt, so weit bändigen, dass er sich für Kraftwerke nutzen lässt. Die Folge wäre saubere, ausreichend vorhandene Energie.

Fusionsreaktor Iter
Eine Momentaufnahme der Iter-Baustelle. Die riesigen Magnetspulen lassen die Doughnut-Form des späteren Reaktorraums erahnen.
ITER

Iter-Leiter verstorben

Nun könnte sich bestätigen, was längst vermutet wurde: Mit einer weiteren Verteuerung und neuerlichen Verzögerungen ist zu rechnen. Die neue Enthüllung folgt einer Initiative des US-amerikanischen Journalisten und Wissenschafters Charles Seife, der darüber im Wissenschaftsmagazin "Scientific American" berichtet.

Seife wurde aktiv, nachdem im Mai 2022 der Leiter des Iter-Projekts, Bernard Bigot, verstorben war – nach langer Krankheit, wie es von offizieller Seite heißt. Einen Monat nach Bigots Tod war ein neuer Zeitplan für das Projekt in einem Iter-Meeting diskutiert worden. Seife verlangte einige Monate später Auskunft über den aktualisierten Zeitplan, bekam aber keine Informationen. Der Tod Bigots hätte Iter in eine "traumatische" Phase der Suche nach einer neuen Führung gestürzt, ließ man ihn wissen. Der in dem Meeting besprochene Zeitplan sei nicht mehr aktuell, Seife solle sich gedulden.

Doch Seife weigerte sich und klagte zu Beginn dieses Jahres die Information nach US-Recht ein. Die USA sind seit den Ursprüngen des Projekts, das in den 1980er-Jahren von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow als Initiative zur friedlichen Nutzung der Kernenergie aus der Taufe gehoben wurde, ein Partnerstaat, auch wenn sie zwischen 1998 und 2003 kurzzeitig ausgestiegen waren. Seifes Klage nach dem U.S. Freedom of Information Act war zu Teilen erfolgreich und zwang Iter, das Sitzungsdokument von 2022 zu veröffentlichen.

Illustration eines Reaktorraums von Iter
Eine Illustration des fertigen Reaktorraums, wie er künftig aussehen soll.
Brigantium and Bentley Systems

Mindestens 35 Monate

Es zeigte, dass bereits 2021 intern von einer weiteren Verzögerung von 17 Monaten die Rede gewesen war. Im Juni 2022 hatte sich die Verzögerung bereits verdoppelt. Publiziert hatte Iter diese Einschätzungen nicht, noch im Juli 2022 war auf der Iter-Website von einer Inbetriebnahme 2025 die Rede, mit einem kleinen Hinweis, dass es zu weiteren Verzögerungen kommen könne.

Tatsächlich dürften diese Zahlen aber bereits wieder überholt sein. Eine Reihe von Problemen macht dem Iter-Team zu schaffen. Darunter sind Produktionsfehler bei den Hitzeschilden, die das Kühlsystem der Magneten vor dem heißen Plasma schützen sollen, sowie Bedenken bezüglich des Strahlenschutzes für technisches Personal – die Neutronenstrahlung des Plasmas erzeugt radioaktives Material mit kurzer Halbwertszeit. Im Jänner 2022 waren die Konstruktionsarbeiten deshalb sogar gestoppt worden.

Manche der Probleme haben politische Gründe, wie man beim Iter-Team betont. Bestimmte Komponenten werden nicht von einem einzigen Partnerland produziert, sondern gleich von mehreren verschiedenen. Die Idee dahinter ist ein zu erwartender Technologietransfer. Alle Partnerländer sollen am Ende in der Lage sein, weitere Fusionsreaktoren zu produzieren.

Plasma im Fusionsreaktor
Das leuchtende Plasma im Fusionsreaktor West in Cadarache, Bouches-du-Rhône in der Provence. Er ist, wie Iter, vom Typ Tokamak.
ITER

Reaktor in Rekordgröße

Dass die Konstruktion eines Prototyps wie Iter mit Unsicherheiten verbunden ist, ist wenig überraschend. Doch vieles an der Anlage wurde an anderer Stelle ausgiebig erprobt. Etliche Tokamak-Reaktoren von ähnlicher Bauart wie Iter sind weltweit in Betrieb und produzieren verlässlich Plasma, in dem Fusionsreaktionen stattfinden. Doch Iter ist nicht nur wesentlich größer als jeder bisherige Fusionsreaktor, er soll auch viele Technologien testen, die später für Kraftwerke benötigt werden. Diese Fülle an einander zum Teil widersprechenden Anforderungen ist so neuartig wie die Technologie.

Der noch im vergangenen Jahr versprochene Termin von 2025 für die ersten Experimente wird also nicht einzuhalten sein. Seife kritisiert, dass niemand sagen könne, wie lang es noch dauert. Unbestritten ist, dass das Projekt laufend Fortschritte macht. Gelingt die Fertigstellung, beginnt eine neue Phase für Iter. Dann soll erstmals Plasma aus Wasserstoffatomen mit den riesigen Magneten eingefangen und auf Temperaturen erhitzt werden, die höher als jene im Inneren von Sternen sind. Allerdings sind dann nochmals zehn Jahre an Experimenten veranschlagt, bevor ein Gemisch aus den Wasserstoffisotopen Deuterium und Tritium den Reaktorraum füllen soll. Erst diese schwereren Varianten des Wasserstoffs erlauben eine Energieausbeute, die den Einsatz von Fusion als Kraftwerkstechnologie möglich macht. Bis dahin wird Iter das teuerste Wissenschaftsprojekt aller Zeiten sein.

Durchbruch in den USA

Der Meilenstein eines Fusionsexperiments, das mehr Energie abwirft, als investiert werden muss, gelang Ende letzten Jahres einem Team am Lawrence-Livermore-Labor in den USA. Der Ansatz war allerdings ein völlig anderer. Hier wurde nur eine winzige Kapsel mit Gas von Lasern kurzzeitig erhitzt. Iter hingegen will die Fusionsreaktion mit größeren Mengen an Gas über längere Zeit aufrechterhalten. Gegenüber dem gefeierten, halbmilitärischen Experiment hätte Iter damit einen entscheidenden Vorteil: Die Architektur eignet sich tatsächlich für ein künftiges Kraftwerk. Bei dem Versuchsaufbau, der am Lawrence-Livermore-Labor zum Einsatz kam, ist das fraglich. Dort betonte man vor allem den Wert der Forschung als Ersatz für Wasserstoffbombentests. (Reinhard Kleindl, 25.6.2023)