st. margarethen naturkulisse
Der Römersteinbruch von St. Margarethen öffnet sich seinem Publikum alljährlich wie eine Zauberlandschaft.
Andreas Tischler

Wo sind sie hin, die mageren Zeiten, da nach Ende der Spielsaison im Juni das Theaterleben in einen Sommerschlaf fiel? Als das Publikum den Brettern – Schiller: "die die Welt bedeuten" – wenigstens zwei Monate lang entsagen musste und sich aus Verzweiflung darüber in nah und fern der höhnisch feixenden Urlaubssonne auslieferte.

Dieser Mangel ist passé. Das Sommerloch musste schließen, weil die Bühnen landauf und landab in der heißen Jahreszeit immer weiter prosperieren. Theaterereignisse, Bühnen-Gustostückerln und Festivals sind äußerst beliebt. Die Gründe für diese positive Zeitenwende, die einer tatsächlich bereichernden Disruption nahekommt, liegen im geglückten Tanz von Veranstalterinitiativen mit dem Publikumsinteresse.

"Jedes Publikum ist gleich wichtig", sagt Kristina Sprenger, die dem Theaterfest Niederösterreich vorsteht und die Festspiele Berndorf leitet. Auch "guten Boulevard" zu finden sei "gar nicht so einfach". Schauspielerin ist sie geworden, um "zu unterhalten, zu berühren und die Menschen auf eine Reise mitzunehmen". Dieses Jahr in Berndorf spielt sie etwa in Funny Money von Ray Cooney.

Theater mit Urlaub

Die Initiativen erfolgten zur rechten Zeit im richtigen Ton, sodass Schaffende wie Schauende sich gerne herbei- und dabei auch nicht durch etwaige Brausewetter abschrecken ließen. Im Gegenteil, ein über der Freiluftbühne dräuendes Sommergewitter kann den Abenteuercharakter des Kunsterlebnisses heben. Das brachte dem Autor dieser Zeilen einmal ein unvergesslicher Juliabend bei den Festspielen Stockerau bei. Heuer kann man sich dort an Nestroys Der Zerrissene delektieren.

Miterlebt haben den neuen Festivalwind beispielsweise auch Sommerfrischler auf dem Semmering, als von Jahr zu Jahr mehr Menschen dem Lockruf von dort folgten und die Einweiser für Parkplätze vor wachsenden Herausforderungen standen. Die zart-morbide Einschicht jenseits der Passhöhe, der zuletzt das Hotel Stühlinger zum Opfer gefallen war, wurde verweht. Jetzt findet der Kultursommer Semmering im Panhans und in einem im Vorjahr errichteten Kulturpavillon statt.

Praktisch stehen sommerliche Theaterbesuche dem wohlverdienten Urlaub nicht entgegen, sondern stellen eine zusätzliche Bereicherung dar. Ausflüge wie zum Beispiel zum oberösterreichischen Schloss Tillysburg mit einem neuen Faust-Stück von Robert Menasse oder ins niederösterreichische Gutenstein zu den Raimundspielen – dieses Jahr in Koproduktion mit dem Theater in der Josefstadt mit der Uraufführung von Peter Turrinis Es muss geschieden sein – ermöglichen auch die Neuentdeckung des Landes.

Lisz Hirn, Denice Bourbon

Geboten werden also zunehmend auch über den guten Boulevard hinausreichende Positionen. Beim Festival Retz etwa ist die Philosophin Lisz Hirn dabei, und beim Villacher Festival Spectrum Denice Bourbon. Im Übrigen ist eine Aufspaltung zwischen Wertschätzung des sogenannten Eigenen – nicht zu verwechseln mit aggressiver Heimatromantik – und Weltoffenheit so obsolet geworden wie die Konkurrenz zwischen Hoch- und Populärkultur.

Durch Kulturveranstaltungen werden Regionen aufgewertet und Leute einander nähergebracht. Das ist keineswegs nur gut für die Tourismuswirtschaft, sondern auch für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Anders als in den Social Media rückt man hier einander näher. Glücklicherweise verblassen die gegenseitigen Vorurteile zwischen Bundesländern oder zwischen Einwohnern der Regionen und jenen der Städte. Auf dem Land wird die Hauptstadt nicht mehr so leicht als "Wasserkopf Österreichs" abgekanzelt, und das Wienervolk sieht in ländlichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern keine Mostschädel mehr, in deren Schenken man mit der eigenen Herkunft aus Fünfhaus protzt.

Eine Gesellschaft entwickelt sich nicht durch Technologie weiter, sondern mit ihrem demokratischen Fortschritt. In der Begegnung bei kulturellen Anlässen ohne erhobenen Zeigefinger steigt die Bereitschaft, das jeweils Bessere im anderen zu schätzen oder sogar zu bewundern. Das hat viel Potenzial für die nahe Zukunft: Da gäbe es unter anderem die Möglichkeit, auch jene Mitbürgerinnen und Migranten aktiver miteinzubeziehen, die "von außerhalb" kommen. Einladung und gemeinsamer Applaus können den so wichtigen Zusammenhalt stärken. Im Folgenden einige Empfehlungen:

Naturkulisse

Bregenzer Festspiele
Das Wetter hält! Bregenzer Festspiele am Bodensee.
APA/STIPLOVSEK DIETMAR

Noch ist der Neusiedler See nicht Trockenwüste, noch umrankt Wasser die Freiluftbühne der Seefestspiele Mörbisch, die den Bregenzer Festspielen (19. 7. – 20. 8.) bezüglich Naturreize um nichts nachsteht. In diesem Sommer umgarnt der See das Abba-Musical Mama Mia (13. 7. – 20. 8.), das mit Meryl Streep einst auch filmische Prominenz erlangte. Nicht weit vom Musical-See präsentiert sich das burgenländische Eldorado der Freiluftoper. Im Steinbruch St. Margarethen gibt man heuer vor der steinernen Naturkulisse den Blockbuster schlechthin: Gezeigt wird George Bizets One-Hit-Wonder Carmen (12. 7. – 20. 8.), das in sich aber zahllose Hits birgt. Wer nahe bei Wien bleiben, dennoch aber Musik unter freiem Himmel genießen will, ist in Klosterneuburg gut aufgehoben. Es gibt Oper plus Parkromantik und klösterliche Geborgenheit: Im Kaiserhof des Stiftes Klosterneuburg gibt man Verdis Machtanalyse Don Carlos (ab 8. 7.). (toš)

Erstaufführungen

Wachauarena Kassandra
"Kassandra"von Magda Woitzuck in der Wachauarena in Melk.
DANIELA MATEJSCHEK

Nicht schlecht: Das Sommertheatergeschehen erobert Uraufführungsterrain. Auf Schloss Tillysburg in Oberösterreich zeigt Intendant Nikolaus Büchel erstmals in Österreich Robert Menasses Faustspiel Dr. Hoechst. Auch ein Novum: Die Raimundspiele Gutenstein koproduzieren mit dem Theater in der Josefstadt, und zwar für die Uraufführung von Peter Turrinis historischem Drama Es muss geschieden sein. Magda Woitzuck hat für die Sommerspiele Melk Kassandra neu geschrieben. Auf neu Bearbeitetes aus der Antike setzt auch der Theatersommer Haag mit dem Stück Ella, Ella!, basierend auf Aristophanes’ Lysistrata. Regie vor Ort führt erstmals Ruth Brauer-Kvam. Könnte knallig werden!

Elvis beim Steudltenn-Festival im Zillertal schickt das Publikum durch Graceland. Auf Schillers Drama Die Räuber fußt eine Neufassung von Ulf Dückelmann, zu sehen bei Theaterzeit Freistadt unter Der verlorene Sohn. (afze)

Alles Nestroy

Treibt dem Sommertheater den Leichtsinn aus: Johann Nestroy. Hier: Nestroy Spiele Schwechat mit "Eisenbahnheiraten".
Barbara Palffy

Man kommt nicht umhin, die Eignung des Possenwerks von Johann Nestroy (1801–1862) für das Sommertheater als idealtypisch anzusehen. Nicht nur, weil manche Nestroy-Helden wenigstens einmal im Leben "verfluchte Kerle" sein wollen, drängen sie allesamt hinaus ins Freie. Wie der Kommis Weinberl in Einen Jux will er sich machen – nur dass der eben nach Wien umschwenkt. Zu sehen ist das Stück bei den Festspielen Reichenau ab 1. Juli (bis 6. 8.).

Manche von ihnen sind vermögende Hausbesitzer. Als solche siedeln sie im Wiener Umland. Dort leben sie in Saus und Braus. Wo diese aber noch am Gängelband entrückter Geister hängen, da werden Nestroys Menschen von dampfbetriebenen Maschinen bewegt. In Eisenbahnheiraten (1843) geht es vornehmlich um Liebesgeschichten und Heiratssachen – allein die Zusammenführung der Brautleute unterliegt den Tollheiten des Zugreiseplans.

Prompt kommt der Bäckermeister Kipfl im Stück aus dem Staunen nicht heraus. Er verstehe sehr wohl, aus welchen Bestandteilen eine Lokomotive zusammengesetzt sei. Einzig "wie die Maschine gerad’ die Pferdekräfte bekommt, das versteh ich noch nicht, darüber muss ich mit einem Rosshandler reden". Das lehrreiche Nebenwerk Nestroys läuft heuer bei den Nestroy-Spielen Schwechat im stimmungsvollen Ambiente des Schlosshofes Rothmühle (1. 7. – 5. 8.). Die Festspiele Stockerau bewegen sich auf bekannterem Nestroy-Terrain. In Der Zerrissene führen die Eskapaden eines Lebensüberdrüssigen dazu, dass Arm und Reich die Kleider tauschen. Man könnte auch sagen: Der Herr von Lips macht, von seinen vermeintlichen Freunden für tot gehalten, die Erfahrung absoluter Kontingenz. Prompt fällt er aus allen Wolken. Die Spielserie auf dem Stockerauer Dr.-Karl-Renner-Platz läuft von 27. 7. bis 20. 8.

Die Frage, wie man sein Glück mit Füßen tritt und dennoch, mit Amors Hilfe, alle Schrecknisse und Kometen bannt, wird in der populären Zauberposse Lumpazivagabundus oder das liederliche Kleeblatt (1833) spektakulär beantwortet. Sowohl auf der Schlossruine Reichenau im Mühlviertel wird den Handwerksburschen Kneipp, Zwirn und Leim ordentlich heimgeleuchtet (14. 7. bis 5. 8.) als auch im schmucken Waldviertler Hoftheater (ab 30. 6.).

Aber für alle Johann-Nestroy-Figuren gilt schließlich, was bereits Karl Kraus über sie zu sagen gewusst hat. Mit einem Bein stehen diese galligen Vertreter des Fortschritts in ihrer Profession – mit dem anderen mindestens knietief in der Philosophie. (poh)

Klein, aber fein

Stadttheater Grein
"Kleine Eheverbrechen" im schmucken Stadttheater Grein in Oberösterreich.
un attimo Photographie

Das Stadttheater Grein ist das älteste erhaltene bürgerliche Theater Österreichs, mit lediglich 130 Sitzplätzen ist es auch eines der kleinsten. Neun Mal will man jene (ab 29. 6.) voll besetzen, Publikum anlocken soll Kleine Eheverbrechen von Éric-Emmanuel Schmitt: Nach 15 Jahren als Paar dreht sich bei Lisa (Melanie Herbe) und Gilles (Andreas Patton) alles darum, wer was weiß, es aber eigentlich nicht wissen sollte.

Zum letzten Mal findet heuer im pittoresken Innenhof des Volkskundemuseums in Wien das Freilicht-Sommertheater von Zenith Productions statt. Gezeigt wird Der Stoff, aus dem man Träume macht – eine Stück sehr frei nach Hans Christian Andersens Märchen Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Für die ganze Familie bzw. ab sieben Jahren. Das Theater im Hof in Enns zeigt (ab 14. 7.) im Florianer Freihaus eine Mafia-mäßige Bearbeitung von Carlo Goldonis Diener zweier Herren. Statt Venedig ist Palermo Schauplatz ...

Hoch hinauf

Wer kulturell hoch hinaus will, ist auf 1000 Meter Seehöhe und beim Kultursommer Semmering (6. 7. bis 3. 9.) gut aufgehoben. Das Festival bietet im Grandhotel Panhans und im Kulturpavillon ein buntes Programm mit zahllosen Theatergrößen wie Klaus Maria Brandauer, Lars Eidinger und Birgit Minichmayr. Musikalisch reicht das Angebot von Trompeter Thomas Gansch bis zu Vokalistin Angelika Kirchschlager. Im Südbahnhotel Semmering, quasi bei der Konkurrenz, gibt es (ab 23. 6.) Alma zu sehen, das ewige Stück von Joshua Sobol und Paulus Manker.

Hoch hinauf geht es auch zur Oper in Niederösterreich. Die Burg Gars wird heuer zum ägyptischen Pharaonentempel am Nil, schließlich wird Verdis Aida gegeben (15. 7. – 5. 8.). Ein Blick nach Tirol? Seit 30 Jahren wird auf der Freilichtbühne in Elbigenalp Theater gespielt. Und jenes Stück, mit dem alles begann, war die Geierwally. Nun, im Jubiläumsjahr, hat man sich entschlossen, Felix Mitterers Erzählung erneut anzusetzen (ab 8. Juli). Aufführungen finden bei jeder Witterung statt, das Theaterareal ist überdacht. Empfohlen wird jedoch, warme Kleidung samt Decke mitzunehmen, was bei der Aida auf Burg Gars auch nicht schaden kann. 

Urban

Stanislaus Dick
Kultursommer Wien mit vielen Acts, hier: Stanislaus Dick.
Theresa Wey

Auch die Ballungsräume bieten auf ihren freien und kühlen Plätzen der kulturellen Geschehen Platz. Aus der Pandemie hervorgegangen ist der zweimonatige Kultursommer Wien mit seinem umfangreichen und vielgestaltigen Programm aus Musik, Kabarett, Literatur, Theater und Zirkus. Nicht mehr wegzudenken ist auch Michael Niavaranis Theater im Park im Schwarzenberggarten am Belvedere, wo sich bis September neben Shakespeares auch viele andere Sommernachtsträume erfüllen werden.

Deutlich länger schon bewährt, nämlich seit 1909, ist die Tschauner Bühne in Wien-Ottakring. Die Open-Air-Bühne mit intergalaktischem, amtlichem oder gar tödlichem Stegreif hält dank des Schiebedachs jedem Wetter stand. Der Theatersommer Klagenfurt nimmt seine Vorjahresproduktion wieder auf: How to Date a Feminist von Samantha Ellis. Mit dem Stadttheater Klagenfurt wiederum koproduzieren die Salzkammergut-Festwochen Gmunden, und zwar für Shakespeares Sturm.

Open Air

Chamberlain's Men Art Carnuntum
Shakespeares Nachfahren: The Lord Chamberlain’s Men zeigen im Amphitheater von Petronell "Romeo und Julia".
Art Carnuntum

Constantina Bordin leitet seit 2021 das Festival Art Carnuntum nahe Wien und stemmt heuer ihre erste große Saison. Eröffnet wird das Festival mit Antigone von Sophokles, inszeniert von Savvas Stroumpos. Für einen heiteren Abschluss im Amphitheater von Petronell sorgen im September dann The Lord Chamberlain’s Men, jene Londoner Truppe, die Shakespeare himself als Teilinhaber führte. Sie gastieren mit Romeo und Julia, selbstverständlich in rein männlicher Besetzung.

Einen neuen Spielort stampfen die Volksschauspiele Telfs aus dem Boden. Zwischen Mariahilfkapelle und Besamungsstation entsteht eine Tribüne mit Blick auf Inntal und Alpenpanorama. Intendant Gregor Bloéb konnte für eine Neuversion der 7 Todsünden namhafte Autorinnen und Autoren gewinnen, darunter Helena Adler, Lisa Wentz, Felix Mitterer, David Schalko, Hubert Sauper. Alle Spielstätten sind barrierefrei.

Gregor Bloéb Volksschauspiele Telfs
Volksschauspiele-Intendant Gregor Bloéb (li.) bei Proben zu den "7 Todsünden" mitLisa Hörtnagl und Klaus Rohrmoser.
Tiroler Volksschauspiele/Aria Sadr-Salek

Bei den Schlossspielen Kobersdorf im Burgenland nagt ebenfalls einer an seiner Last: Wolfgang Böck verkörpert im Alpenkönig den Gutsbesitzer Rappelkopf, die österreichische Version des Menschenfeinds, dem ein bisschen Einsicht gar nicht schadet. Ganz und gar kein Rappelkopf wiederum ist der wohlgemute Don Quijote, den die Sommerspiele Perchtoldsdorf in der ersten Spielzeit von Neo-Intendant Alexander Kubelka zeigen. Selbiger inszeniert die neue Theaterfassung von Jakob Nolte mit einem immerhin wuschelköpfigen Gregor Seberg in der Titelrolle. Die imposante Felsenbühne Staatz im Weinviertel, bekannt für dynamische Shows, dient heuer dem Musical Zorro als Kulisse – mit Musik der Gypsy Kings.

Eine neue Textgattung wurde 2023 ebenfalls erfunden, das Paartherapeutical! Beim Kultursommer Laxenburg im Hof der Franzensburg zeigt Intendant Adi Hirschal selbige Liebeskomödie All We Need Is Love von Christian Deix und Olivier Lendl. Hirschal spielt neben Angelika Niedetzky und anderen auch mit. Barrierefreier Zugang! Nicht ganz open air, aber doch kühl und nur für gutes Schuhwerk zu empfehlen ist die Spielstätte im Bunker von Mödling, den Bruno Max mit dem Ensemble zum Fürchten entert. Über 50 Akteure locken hinein in die gruftige Atmosphäre, in der beim Stationentheater Aventura aber viel Abenteuerliches geschieht. (Helmut Ploebst, Margarete Affenzeller, Ronald Pohl, Ljubisa Tosic, Michael Wurmitzer, 21.6.2023)