Festwochen
Es geht um Leben und Tod: Musiktheatercollage zu Fragen, die alle betreffen.
Stella Olivier

Bevor es bei Sibyl mit dem Musiktheater losgeht, gibt es im Museumsquartier den doppelten William Kentridge. Im Film The Moment Has Gone realisiert der Künstler in seiner Werkstatt Fantasien per Kohlezeichnung. Dazwischen diskutiert er nonverbal mit seinem "Double" über die Frage, welches jener mit Merksätzen beschrifteten Blätter für das folgende Musiktheater zum Einsatz kommen soll. Genau genommen sind es mehr als zwei Kentridges. Auch ein dritter, gezeichneter, ist zugegen, das bekannte Alter Ego Soho Eckstein.

Musik ist bereits präsent: Der zwanzigminütige Film wird in der Halle E von Pianist Kyle Shepherd und einem Vokalensemble (Leitung: Nhlanhla Mahlangu) atmosphärisch aufgeladen, während der Schaffensprozess des Zeichnens, Wiederlöschens und Neuzeichnens animationsfilmisch ausgestaltet wird. Es umspült den verdreifachten Kentridge südafrikanische A-cappella-Stilistik zwischen Mouth Percussion, Parlando und wehmütiger Kantilene. Das Klavier gibt den angenehm flauschig groovenden Duktus vor, verdüstert sich schließlich aber dissonant, wenn im Film die kohlegezeichnete Welt nach und nach zu schwarzem Staubfleck zerfällt. Deutet sich hier schon eine Art vergeblicher Kampf gegen das Unvermeidliche der Endlichkeit an, rückt er in Waiting for the Sibyl mit Tänzerinnen, Chor, Projektionen und Schattenspielen ins Zentrum.

Es geht um Weissagungen

Der Name Sibyl ist nicht willkürlich gewählt. Er verweist auf eine mythische Prophetin, die Antworten auf an sie gestellte Fragen auf Blätter schreibt, die sie vor ihre Höhle legt. Fragesteller und Fragestellerinnen jedoch, die wissen wollten, wie ihre jeweiligen Leben weitergehen und wann sie enden, bleiben in Ungewissheit. Ein Wind wirbelt die niedergeschriebenen Zukunftsentwürfe herum. Wer ein Blatt erhascht, liest zwar Sibyls Weissagung. Er weiß jedoch nicht, ob sie ihn betrifft oder jemand anderen.

Diesen Zustand des angstvollen Sehnens nach Gewissheit und die gleichzeitige Unmöglichkeit, diese zu erlangen, nimmt Kentridge in Waiting for the Sibyl zum Ausgangspunkt für ein halbes Dutzend Szenen, in denen Existenzen Blätter vom Boden aufsammeln und lesend versuchen, Antworten zu erlangen. In dieser gesamtkunstwerklichen Überfülle aus Musik, Tanz und Animationsfilm werden prophetische Ratschläge auf eine Leinwand projiziert, heitere bis skurrile: "Widerstehe dem dritten Martini" und "Hüte dich vor Insekten mit Schnurrbärten" sind Gedanken, denen Ernstes folgt: "Du wirst die Stadt nie mehr sehen" ist dann ein Satz, der Kentridges kunstvollen Informationsstrom in das Thema Tod münden lässt.

Nach dem endzeitlich Pessimistischen am Ende dann doch ein heiter-slapstickhaftes szenisches Rufzeichen. Wie durch Geisterhand klappen immer wieder Stühle zusammen, einer strauchelt und staunt, was da passiert. Man denkt an das Ende der Verdi-Oper Falstaff und die Schlussfuge mit dem Text "Alles ist Spaß auf Erden", der natürlich so generell auch nicht stimmt.  (Ljubisa Tosic,20.6.2023)

Foto: Stella Olivier

Stella Olivier